Werner Gruber, der aus Funk und Fernsehen bekannte Physiker, der die wunderbare Gabe besitzt, mit spektakulären Experimenten und launigen Exkursen der breiten Öffentlichkeit Einblicke in die Geheimnisse der Gravitations- und anderer Theorie zu gewähren, wartet draußen auf der Straße bereits eine geschlagene Stunde auf seinen Chef. Der in den letzten Monaten auffällig erschlankte Gruber leitet die Sternwarte in der Wiener Urania, Michael Ludwig, nebenbei auch Präsident der Wiener Volkshochschulen und somit Schutzherr der Sternwarte, steckt hoffnungslos im Stau.

Bei den Bienenstöcken

Zu Mittag hatte Ludwig die slowenische Botschafterin zum Fototermin bei den Bienenstöcken auf dem Dach des Rathauses empfangen, dann ging es quer durch die Stadt zurück in seinen Heimatbezirk Floridsdorf zu einem Event am Schlingermarkt, jetzt ist er wieder auf dem Weg retour zur Urania am Donaukanal. Seit elf Jahren gehört Ludwig der Stadtregierung an. Wie viele Kilometer der bisherige Wohnbaustadtrat bei seiner täglichen Rallye durch die Stadt im Auto absolviert hat, ob es mehr sind als die 380.000 Kilometer von der Erde bis zum Mond, ist nicht überliefert.

Volksnähe verpflichtet

Plötzlich taucht Ludwig mitten im Verkehrsgewusel zu Fuß auf. Wenn Kameras und Fotografen zugegen sind, haben es sich Politiker zur Angewohnheit gemacht, zum Ort des Geschehens zu gehen, der protzigen oder weniger protzigen Limousine entsteigt man abseits der Öffentlichkeit - Volksnähe verpflichtet.

Gruber und Ludwig begrüßen einander mit einem kumpelhaften „Servas“. Der Physiker hat Ludwig im Machtkampf um die Häupl-Nachfolge offen unterstützt, ein gemeinsamer Auftritt in der ORF-Sendung Wien-Heute machte die Allianz öffentlich. Nun hat Gruber dem künftigen Bürgermeister für einen Fototermin mit der Kleinen Zeitung die Kuppel der Sternwarte, die ortstechnisch genau über dem legendären Kasperltheater liegt, geöffnet. Zum Glück hatte nicht nur Ludwig, sondern der für den frühen Abend angekündigte Regen gehörig Verspätung.

Leutselig, freundlich - und aalglatt

Beim anschließenden Interview im Café der Urania gibt sich Ludwig professionell, nicht kumpelhaft, sondern umgänglich, leutselig, freundlich. Beim Versuch, die persönlichen Vorlieben des neuen Bürgermeisters zu ergründen, stößt man schnell auf Granit. Dem 57-Jährigen in einem Word-Rap zu entlocken, ob er es lieber klassisch in der Staatsoper oder poppig in der Stadthalle mag, an einem lauen Abend lieber den Heurigen oder den trendigen Donaukanal bevorzugt, lieber das noble Steirereck oder das kultige Schweizerhaus aufsucht, dem Kunsthistorischen oder dem Kriminalmuseum in der Leopoldstadt den Vorzug gibt, begegnet er lapidar: Beides. Ist es Vorsicht? Diplomatisches Geschick, um niemanden in Wien zu verprellen? Warum so aalglatt? Oder ist Ludwig einfach urbieder - und verbirgt das geschickt? Als journalistischer Rohrkrepierer entpuppt sich die Frage, ob er zur Austria oder zu Rapid hält. „Weder noch, als Floridsdorfer bin ich natürlich für den FAC.“ Der übrigens am vorletzten Platz in der Ersten Liga rangiert.

In der Siphonfabrik

Ludwig stammt aus einfachsten Verhältnissen aus dem siebenten Bezirk. Seine Mutter war Hilfsarbeiterin in einer kleinen Siphonfabrik. Um finanziell über die Runden zu kommen, mussten auch die Kinder anpacken - am Abend am Küchentisch wurden Siphonkapseln geschraubt. Als Ludwig noch in die Schule ging, erhielt die Familie vom roten Wien eine Gemeindewohnung in Floridsdorf. Auf Sommerfrische fuhr man in die Oststeiermark oder an den Wörthersee - in ein Betriebsheim der Simmering-Graz-Pauker.

Techniker der Macht

Ludwig maturierte, studierte, promovierte und diente sich in der SPÖ nach ganz oben. „Ich habe ihn als ruhigen, pragmatischen, freundlichen, eher linken Genossen gelernt“, erzählt ein alter Weggefährte. Ehrgeizig? „So habe ich ihn nicht in Erinnerung, aber da dürfte ich mich getäuscht haben.“ Als Faymann in den Bund wechselte, rückte Ludwig als Wohnbaustadtrat nach - und ward fortan dem rechten Flügel zugerechnet. Die SPÖ kennt er wie seine Westentasche. Den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen an die Spitze schaffte übrigens nicht nur Ludwig. Der Siphonfabrik gelang die Transformation ins 21. Jahrhundert, übersiedelte genauso wie Ludwig nach Floridsdorf und ist heute Weltmarktführer in der Herstellung von Airbags.

Feines Gespür für Schwingungen

Ludwig ist nicht nur ein begnadeter Netzwerker und Techniker der Macht, sondern besitzt ein feines Gespür für Stimmungen und Schwingungen, vor allem für tektonische Verschiebungen in den Gemeindebauten und in den Flächenbezirken, wo man tagtäglich mit dem Zuzug von Nichtösterreichern konfrontiert ist - und für Radwege und andere grüne Steckenpferde begrenztes Verständnis aufgebracht wird. Dass Ludwig die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über den Bau des Lobautunnels und die damit verbundene Untertunnelung des Naturschutzgebietes (in 60 Meter Tiefe) begrüßt, während die Wiener Grünen schäumen, passt genau ins Bild.

Video im Gemeindebau

Als Wohnbaustadtrat führte Ludwig ein Punktesystem für die Vergabe von Gemeindewohnungen ein, das jene, die seit Langem in Wien leben, gegenüber Zuwanderern bevorzugt. Auch setzte er Hausordnung, Ordnungsdienste und Videoüberwachungen in Gemeindebauten durch. Das jüngste Alkoholverbot am Praterstern trägt ebenso seine Handschrift. Das Bonussystem soll auf andere Bereiche ausgedehnt werden - als politisches Signal an die „echten Wiener“, die das Gefühl haben, von der Politik zu wenig bis gar nicht ernst genommen zu werden.

Raunzender Wiener

Was den echten Wiener ausmacht?, frage ich ihn bei einem Glas Wasser. Michael Häupl hätte bereits zwei Spritzer bestellt - die Zeiten haben sich gottlob geändert. „Ein echter Wiener ist einer, der gerne raunzt, aber trotzdem seine Stadt liebt.“ Wien zählt zu den am schnellsten wachsenden Millionenstädten Europas, bald sind die zwei Millionen, die Wien auch um die Jahrhundertwende hatte, wieder erreicht. „Wir müssen darauf achten, dass es keine zwei Geschwindigkeiten gibt, wo ein Teil von der Entwicklung stark profitiert und der andere Teil nicht mitkommt“, betont Ludwig. „Es wird notwendig sein, eine Klammer zu bilden, um zu verhindern, dass es zu Gräben in der Gesellschaft kommt.“

Hausordnung für Wien

Und in der jüngsten Zib2 meinte Ludwig, er strebe eine Art "Hausordnung für die ganze Stadt" an, um den Auf- und Umbruch, den die am schnellsten wachsende Millionenstadt Europas durchmacht, in geordnete Bahnen zu lenken. Michael Ludwig versteht sich als Hausmeister der Bundeshauptstadt, der fürsorglich, wohlmeinend, aber auch bestimmt und schlechten Entwicklung vorbeugend die Stadt und ihre Bürger in die richtige Zukunft führt.

Wie er den Spagat zwischen dem raunzenden Wiener, der jeglicher Veränderung trotzt, und dem Fortschritt schaffen will? „Der echte Wiener ist eine Mischung aus Kritik und Bereitschaft zur Veränderung.“ Eine einfache Mischung? „Keine einfache Mischung, aber eine sehr liebenswerte.“