Herr Erster Vizepräsident, wann gründen Sie Ihre eigene Partei?
Diese Gerüchte stammen nicht von mir. Ich werde mir im Sommer Gedanken darüber machen, was ich 2024 tun werde. Ich bitte um Verständnis, dass ich diese Entscheidung für mich treffe und sie erst dann öffentlich bekannt gebe.
Also ist die Parteigründung eine Option?
Die erste Option, die ich mit mir zu diskutieren habe, ist: Höre ich auf oder kandidiere ich wieder?
Wären Sie Teil der Bundesregierung, könnten Sie sich stärker einbringen.
Ich versuche das immer an der Stelle, wo ich tätig bin. Für mich ist eine aktive Europapolitik zugleich eine erfolgreiche Österreichpolitik. Ich lasse das eine nicht gegen das andere ausspielen. Aber ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich bereit bin, meine Erfahrung verstärkt in Österreich einzubringen. Deshalb fahre ich jetzt durch alle Bundesländer und mache eine Sommertour. Zudem bin ich auch seit 1998 Präsident des Hilfswerks Österreich.
Ihr Abstimmungsverhalten weicht häufig von der EVP- und ÖVP-Linie ab. Kann es sein, dass Sie in der falschen Partei sind?
Ich stimme in den meisten Fällen mit der EVP-Fraktion, denn ich versuche, Mehrheiten für das, was ich für richtig halte, zu schaffen. Es gibt Fälle, wo ich mit der (österreichischen, Anm.) Delegation unterschiedlicher Meinung bin, weil ich die Ablehnung einer Entscheidung mit meiner Überzeugung nicht in Einklang bringen kann.
Bedauern Sie, dass andere Mitglieder der Delegation manchmal die nationale oder parteipolitische Brille aufhaben?
Natürlich irritiert mich das manchmal. Das freie Mandat und die Eigenverantwortung müssen über der Parteipolitik stehen, denn Europa ist immer Kompromiss. Ich habe noch nie gegen jemanden oder etwas gestimmt, sondern immer für etwas.
Aber Sie sind zum Beispiel gegen Grenzschließungen, gegen stärkere Kontrollen, gegen das Rückführen von Wirtschaftsflüchtlingen.
Ich teile diese Analyse meines Handelns nicht. Ich bin für einen starken EU-Außengrenzschutz, aber wenn sich die EU als Rechts- und Wertegemeinschaft versteht, dann kann ich aus meinem christlichen Weltbild heraus nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn die Zahl der Toten im Mittelmeer immer weiter steigt. Das Schengen-Veto steht im Widerspruch zu einer starken Außengrenze. Das ist eine Behinderung der vier Freiheiten in der EU, die sogar unserer Wirtschaft in diesen Ländern schadet.
Ist die ÖVP noch eine christlich-soziale Partei?
Mehr als andere. Von den Werten her.
Kanzler Nehammer hat aber das Schengen-Veto eingesetzt.
Ich bin ja auch nicht Mitglied der Kirche wegen des Papstes, sondern weil mir die christliche Soziallehre ein wichtiger Orientierungsrahmen ist. Weder in der Kirche noch in der ÖVP bin ich mit allem einverstanden. In manchen Fällen bin ich der Auffassung, dass die ÖVP falsch abbiegt. Loyalität besteht nicht darin, dass man seine politische Verantwortung ausschließlich von Parteibeschlüssen ableitet.
Bekommen Sie auf solche Zurufe Rückmeldungen aus der Parteispitze?
Der politische Diskurs findet in ganz Österreich unzureichend statt. Gerade in einer Zeit, wo die Komplexität zunimmt, ist es wichtig, lösungsorientiert und ohne Schulzuweisung die politischen Debatten zu führen. Es gibt nicht die eine richtige Antwort. Deshalb muss es einen offenen Diskurs über die Suche nach Lösungen geben. Wir können die Bürger nur mitnehmen, wenn wir mit ihnen reden.
Der EU gelingt das oft schlecht. Brüssel versucht fieberhaft, seinen schlechten Ruf bei den Menschen zu bewahren. Das war beim Verbot der Glühbirne so, das ist heute beim Milchpackerlverschluss der Fall. Da entsteht der Eindruck: Immer, wenn irgendeine Verrücktheit kommt, dann kommt sie aus der Brüsseler Bürokratie.
Ich wäre ein schlechter Politiker, wenn ich alles verteidigen würde, was passiert. Es ist ein Problem, dass die Detailverliebtheit bei den Regeln oft den Blick auf das große Ganze verstellt. Das tut auch mir als einem überzeugten Österreicher in Europa weh. Bei der Glühbirne haben übrigens zuerst die Mitgliedsstaaten die EU-Kommission aufgefordert, Vorschläge zum Energiesparen zu unterbreiten.
Aber die Leute lehnen das ab und empfinden die EU dann als undemokratisch.
Wenn es Kritik aus Ihrer Leserschaft gibt, können Sie mich jederzeit in die Diskussion einbinden, das wäre mir wichtig. Ich bin dazu da, um zuzuhören und Kritik ernst zu nehmen. Denn wir müssen aus diesem Gefühl der Ignoranz und der Überheblichkeit herauskommen. Derzeit verfolgen wir als Ziel den Green Deal. Aber bei jedem konkreten Vorschlag zur Umsetzung der Klimaneutralität 2050 heißt es: Was die Brüsseler schon wieder wollen! Ich appelliere an die Mitgliedsstaaten, sich nicht für die Ziele auf die Schulter zu klopfen und bei den Maßnahmen in Deckung zu gehen.
Je größer die EU wird, desto komplexer sind die Strukturen. Braucht jedes Land einen eigenen Kommissar?
Sie laufen bei mir offene Türen ein. Die Institutionen müssen an die politischen Aufgaben angepasst werden, denn derzeit behindern in vielen Fällen die Abläufe die Ziele. In unserem aktuellen Verfassungsvertrag steht die Verkleinerung der EU-Kommission drin, aber leider hat sich auch Österreich dafür eingesetzt, dass diese Reduzierung nur stattfinden darf, wenn alle Mitgliedsstaaten zustimmen. Ich würde mich freuen, wenn der Rat 2024 seine Verzögerung in diesem Punkt aufgibt. Gleichzeitig haben wir neue Aufgaben. Ich hätte gerne einen europäischen Verteidigungsminister und einen eigenen Kommissar für die Afrikapolitik.
Die EU will jetzt deutlich mehr Geld von den Staaten und eine eigene EU-Steuer. Das bringt auch keinen Rückenwind.
Die Forderungen an die EU nehmen täglich zu: Sicherheit, Migration, Außengrenzschutz, Klimaschutz, Digitalisierung. Die Staaten wollen aber nicht mehr einzahlen. Daher sagt die EU: Wir müssen eigene Einnahmen einführen. Dem haben die Mitgliedsstaaten übrigens auch zugestimmt. Schauen wir auf die Fakten: Jedes Mitgliedsland zahlt ein Prozent seiner Wirtschaftsleistung, das ist in Österreich eine Milliarde Euro. Allein die Teilnahme am Binnenmarkt bringt einen Mehrwert von 36 Milliarden.
Dann müssten Sie eigentlich gegen den Begriff "Nettozahler" auftreten.
Bin ich immer, weil er verwirrend ist! Ich halte es für gerecht, dass der, dem es besser geht, mehr zahlt. In die schwächeren Regionen fließt auch bei uns mehr Geld zurück, als wir einzahlen.
Die Schweiz und Norwegen sind offenbar zu reich, um ihren Reichtum mit der EU solidarisch teilen zu wollen. Warum lässt man sich das gefallen? Warum gibt es nicht wöchentlich Druck, dass diese Staaten der EU beitreten?
Wir verhandeln jedes Abkommen mit der Schweiz sehr hart und haben ein sehr intensives Annäherungsabkommen mit Norwegen. Ich gebe Ihnen recht: Beide gehören in die EU, wir müssen das in diesen Staaten zum Thema machen. Wir müssen die Rosinenpickerei beenden und auch öffentlich sagen: Irgendwann ist Schluss, weil das unsolidarisch ist. Ich bin auch der Auffassung, dass man den Brexit nicht für immer akzeptieren sollte. Ich habe dafür gesorgt, dass das Europäische Parlament weiterhin ein Kommunikationsbüro in London behält. Die EU muss als Vision haben, dass sie alle demokratischen Staaten Europas integriert, das gilt auch für den Westbalkan.