Dem Volksbegehren „Ethik für ALLE“ war kein besonders großer Erfolg vergönnt. Kaum verwunderlich in einem Land, so könnte man meinen, in dem die Korruption alltäglich und auch in Zeiten der Pandemie die Suche nach Bereicherungsmöglichkeiten, Vorteilen und Schlupflöchern zu einem Volkssport geworden ist. Eine andere Erklärung für dieses Desinteresse wäre die Erleichterung darüber, dass mit dem ohnehin erst vor Kurzem beschlossenen Gesetz, Ethik an Oberstufen als alternativen Pflichtgegenstand zum Religionsunterricht einzuführen, eine endlose Phase der Schulversuche endlich abgeschlossen werden konnte. Damit scheint für viele diese leidige Sache erledigt.

Der politische Kompromiss birgt dennoch einige sachliche Unstimmigkeiten und praktische Unabwägbarkeiten. Nur wer sich vom Religionsunterricht abmeldet oder keiner Religionsgemeinschaft angehört, wird in den Ethikunterricht verwiesen. Dieser darf keinesfalls als eine Art Religionsersatzunterricht für Atheisten oder Agnostiker missverstanden werden. Indem die Lehr- und Studienpläne für den Ethikunterricht bzw. für das neue Lehramtsstudium „Ethik“ den Bezug dieser Disziplin zur Philosophie betonen, wird deutlich, dass es in einem umfassenden Sinn um die rationalen Grundlagen unserer Normen und Wertesysteme geht, wie sie in der vorchristlichen Antike und dann vor allem
in der Aufklärung und im 19. Jahrhundert grundgelegt wurden.

Den Respekt wird man den sozialen und kulturellen Dimensionen der Religionen nicht versagen. Deren Gebote, Vorschriften und Rituale, die das Zusammenleben regeln sollen, können jedoch nur für Gläubige gelten. Der Rahmen der Ethik ist weiter gesteckt als der einer religiös bestimmten Moral: Ethik kommt ohne Rückbindung an transzendente Wahrheiten aus. Ethik braucht keine Götter. Was manche als Mangel empfinden, ist ein Vorteil. Die philosophische Ethik hatte von Anfang an den Anspruch, Moralvorstellungen kritisch zu überprüfen und nach vernünftigen, nachvollziehbaren Begründungen zu suchen. Erst dadurch wird der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen ermöglicht.

Religion ist keine Variante der Ethik. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung gehört eine universalistisch gedachte, vernunftbegründete Moral nicht zu den Kernstücken der Religionen. Wenn es ernst wird, das wusste niemand besser als der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard, wird es der Glaube erlauben, vielleicht sogar erfordern, die Moral zu suspendieren. Man könnte in diesem Sinne einen berühmten Satz Fjodor Dostojewskis umdrehen: Wenn es einen Gott gibt, ist alles erlaubt. Vor dieser Rücksichtslosigkeit sind allerdings auch säkulare dogmatische Ideologien nicht gefeit, die mit dem Verweis auf das vermeintlich Gute ebenfalls keine Scheu haben, Menschenrechte mit Füßen zu treten.

Ein Ethikunterricht, der seinen Namen verdient, wird diese Aspekte so wenig außer Acht lassen wie die Vorbehalte, die Kritiker der Moral wie Nietzsche oder Marx gegenüber einer Attitüde äußerten, die eine zur Schau gestellte gute Gesinnung als Feigenblatt für sinistre politische Absichten einsetzt. Deshalb sollte der Ethikunterricht auf Konsensrhetorik und Wohlfühldidaktik verzichten. Den Religions- gegen den Ethikunterricht auszuspielen, ist jedenfalls nicht sinnvoll. Es darf auch nicht um die Frage gehen, welcher Gegenstand für Schüler „attraktiver“ sein könnte, selbst wenn es in der Praxis zu diesem Wettbewerb kommen wird. Prinzipiell wäre es angemessen, Ethik als Pflichtfach für alle einzuführen, ohne dadurch das Recht auf einen konfessionell gebundenen Religionsunterricht einzuschränken. Versteht man die aktuelle Lösung als einen pragmatisch motivierten Schritt in diese Richtung, kann man eine Zeit lang damit leben.