Der Krieg hinterließ tiefe Wunden. Dort, wo er tatsächlich ausgefochten wurde, also in Belgien und Frankreich an der Westfront, am Isonzo, in den Dolomiten und den vielen anderen Kriegsschauplätzen, sind die Narben, die sich tief in die Landschaft eingegraben haben, bis heute deutlich zu sehen.

Bei uns schrieben sich die Wunden, da die Steiermark nicht unmittelbarer Kriegsschauplatz war, vor allem in die Familiengeschichten ein. Rund 16 % der bei uns eingezogenen Männer kamen nicht mehr aus dem Krieg zurück, weitere gut 32 % überlebten den Krieg nur mit bleibenden physischen oder psychischen Schäden. Jeder zweite Soldat war also Kriegsopfer im engsten Wortsinn geworden, denn Opfer waren wohl alle, die in die Kriegsmaschinerie geraten waren. Aber bei jedem sechsten Soldaten blieb für die Angehörigen nur noch der Name auf dem Kriegerdenkmal, und jeder dritte Soldat kam ohne einen Arm, ohne ein Bein, ohne Unterkiefer, ohne Augenlicht oder aber ohne funktionierendes Nervenkostüm zu Hause an, was das weitere Leben auch der unmittelbaren Angehörigen gewaltig beeinflusste.

Das Totenbuch des "Schwarzen Kreuzes" zählt für die Steiermark 20.000 Gefallene. Diese Zahl umfasst all jene, die bei Kriegsende als Gefallene gemeldet waren, die abschließende Zahl ist also wohl noch höher. Alle Gemeinden waren betroffen, fast alle Familien. Wenige der Toten konnten in der Heimaterde bestattet werden, der Großteil liegt bis heute auf den Friedhöfen oder in den Beinhäusern der Schlachtfelder. Einige sind identifiziert, viele wurden einfach als unbekannt der fremden Erde übergeben, meist in Massengräbern.

Opfer waren aber auch all jene, die der Krieg aus der Bahn geworfen hatte, die individuell brutalisiert und mit einer niedrigen Hemmschwelle bei Gewaltanwendung ihr weiteres Leben bestritten. Sozial entwurzelt, emotional verunsichert, suchten diese Menschen Halt in paramilitärischen Verbänden und privaten Armeen, die auch bei uns die Folgejahre prägen sollten. Die Gewalt des Krieges fand ihre Fortsetzung in der Gewaltbereitschaft der Menschen der Ersten Republik, in der Heimwehren und Republikanischer Schutzbund vielfach aufeinanderprallten. Nicht ganz zu Unrecht wird daher die Zeit von 1914 bis 1945 auch "Dreißigjähriger Krieg" genannt. Zu den zehn Millionen Gewalttoten, die der Krieg gefordert hatte, fügten die ersten Nachkriegsjahre weitere vier Millionen dazu, die meisten davon im russischen Bürgerkrieg und in den Kämpfen in Kleinasien zwischen Griechen und Türken.

Verwundetes Land

Es gab zu Kriegsende also nur Verluste. Man trauerte um die vielen Toten, die sich, anders als in den Siegerstaaten, in keine große, stolze und ruhmreiche Erzählung integrieren ließen. Man war für den Kaiser in den Krieg gezogen, gefallen für eine nicht genau definierte "Heimat", deren neue Grenzen aber auch wieder nur Verlust signalisierten. Die Grenzziehung durch die Steiermark, der "Marburger Blutsonntag" und die Abtrennung der Untersteiermark, das waren alles zusätzliche Wunden, die unserem Land geschlagen wurden und deren Heilung sehr lange dauern sollte.

Aber dennoch: In all diesem Untergang und in der Verzweiflung entfaltete sich zaghaft der Keim neuer Möglichkeiten und Chancen. Man lebte nun in einer Demokratie, auch die Frauen durften endlich wählen und Hans Kelsen gab dem Land eine vorbildliche Verfassung. Im Parlament wurden Sozialgesetze beschlossen, die weit über das hinausgingen, was die Monarchie geboten hatte, und die in ganz Europa beispielgebend wurden.

Das Land war zwar arm, ökonomisch instabil, von einer unvorstellbaren Inflation zusätzlich belastet, aber dennoch sozial und politisch deutlich gerechter geworden. Es hatte den Weg ins moderne 20. Jahrhundert angetreten, auf dem aber noch nicht alle mitgehen konnten oder wollten. Da bedurfte es noch der großen Katastrophe Zweiter Weltkrieg, dieser ungeheuren zweiten Erschütterung, bis fast alle zur Kenntnis nehmen konnten, dass ein demokratischer Kleinstaat mit seinem Bemühen um einen sozialen Ausgleich nicht der schlechteste Platz auf dieser Erde ist, an dem man leben kann.