Herr Benedek, das Attentat von Sarajevo 1914 konnte nur deshalb den Ersten Weltkrieg auslösen, weil die österreichische Regierung die Tat dem Staat Serbien zugeschrieben hat. War das legitim?

WOLFGANG BENEDEK: Eine direkte Zuschreibung scheint mir nach dem Bild, das die Historiker zeichnen, problematisch zu sein. Selbst in dem Ultimatum, das die österreichische Regierung nach dem Attentat an Belgrad gerichtet hat, wird nicht direkt die serbische Regierung verantwortlich gemacht.

Mit Waffen ausgerüstet worden sind die Täter immerhin vom Chef des militärischen Abschirmdienstes, einem Oberst im Königreich Serbien. Wird das Gebaren eines so hohen Funktionsträgers nicht automatisch dem Staat zugerechnet?

BENEDEK: Damals gab es dazu nur Gewohnheitsrecht. Im Jahr 2001 hat die UNO-Vollversammlung dann in den Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit beschlossen, dass die Handlungen eines Staatsorgans oder eines hohen Funktionärs auch dann dem Staat zugeschrieben werden können, wenn Kompetenzen überschritten oder Weisungen missachtet wurden. Dieser Beschluss gilt heute als Nachweis von Völkergewohnheitsrecht. Doch stellt sich die Frage, ob die Bewaffnung der Täter durch den serbischen Obersten die hohen Standards für eine Zurechnung der Tat an dessen Staat erfüllen würde.

Und was ist mit dem Mord? War daran dann Serbien schuld?

BENEDEK: Einer der Artikel von 2001 schreibt eine Handlung dann dem Staat zu, wenn jemand "faktisch", wie es dort heißt, im Auftrag oder unter Anleitung dieses Staates handelt. Das würde für den Täter Gavrilo Princip und seine Leute zutreffen. Vorausgesetzt, man hat schon das Handeln des Geheimdienst-Obersten dem Staat zugerechnet. Das ist aber die Schwachstelle.

Der Internationale Gerichtshof hat 1986 die USA wegen der Rolle der CIA im sogenannten Contra-Krieg in Nicaragua verurteilt. Ist das ein vergleichbarer Fall?

BENEDEK: Was die Amerikaner in Nicaragua gemacht haben, ging wesentlich weiter. Sie haben die Contras bewaffnet, ausgebildet, angeleitet und andere Eingriffe gesetzt. Trotzdem hat der IGH die vergleichbaren Handlungen nicht als Intervention gewertet - mangels "effektiver Kontrolle". Das deutet darauf hin, dass Serbien 1914 nicht verantwortlich gewesen wäre.

Angenommen, ein ukrainischer Staatsbürger russischer Nationalität erschießt heute einen westlichen Staatsmann bei dessen Besuch in Kiew. Wäre das ein legitimer Kriegsgrund?

BENEDEK: Ganz sicher nicht. 1914 gab es noch ein Recht auf Krieg als Ausfluss der staatlichen Souveränität. Die dritte Haager Konvention von 1907 schrieb nur vor, dass der Krieg entweder erklärt oder mittels Ultimatum angedroht werden müsse. Schon 1928 hat der Briand-Kellogg-Pakt den Krieg geächtet. Durch die UNO-Charta von 1945 mit ihrem absoluten Gewaltverbot wäre es unmöglich, aus einem solchen Attentat einen Kriegsgrund zu fabrizieren. Das Recht auf Selbstverteidigung als Ausnahme vom Gewaltverbot setzt voraus, dass ein Staat unmittelbar angegriffen wird.

Waren die USA durch 9/11 unmittelbar angegriffen?

BENEDEK: Offensichtlich. Aber nicht durch einen anderen Staat, sondern durch Al-Kaida. Die Reaktion, zunächst gegen Afghanistan, wird man als überzogen bewerten müssen. Kein Sicherheitsrat, kein internationales Gremium hat das autorisiert.

Dann hat die UNO aber eine Mission hingeschickt.

BENEDEK: Das ist aber keine Legitimierung im Nachhinein.

Was ist, wenn etwa in Pakistan von einem durch die Regierung nicht kontrollierten Gebiet islamistische Rebellen Terroranschläge verüben? Darf ein Staat dann eingreifen?

BENEDEK: Grundsätzlich rechtfertigt das Völkerrecht in diesem Fall eine Intervention nicht. Es sieht nur vor, den Staat aufzufordern, diese Kräfte zu stoppen.

Und wenn er das nicht kann?

BENEDEK: Der Fall ist im Völkerrecht umstritten. Es braucht die Zustimmung des Sicherheitsrates - und die wird in der Regel nicht zu erreichen sein.

Ist das nicht eine gravierende Lücke im Völkerrecht?

BENEDEK: Es ist vielleicht eine bewusste Lücke. Man konnte sich nicht darauf einigen, wie man den Fall regeln will - man fürchtete, dass eine Regelung einen Vorwand schaffen könne, missbräuchlich den Sicherheitsrat auszuschalten. Einige Staaten wie die USA leiten aus der Unfähigkeit eines Staates, seine Staatsgewalt auszuüben, ja durchaus ein Recht zur Selbstverteidigung ab.

Im Ultimatum von Juli 1914 hat Wien von Belgrad gefordert, österreichische Behörden an der Untersuchung des Attentats teilnehmen zu lassen. Die serbische Regierung hat das mit Verweis auf ihre Souveränität abgelehnt. Wie wäre das heute?

BENEDEK: Ein Staat wie etwa Pakistan, mit dem es keine besonderen Abkommen gibt, hätte auch heute das Recht, die Teilnahme etwa ausländischer Polizisten an einer Untersuchung abzulehnen.

Hilft da auch der Grundsatz der Kooperation in der UNO-Charta nicht?

BENEDEK: Dabei ist vor allem an Kooperation mit Institutionen gedacht, etwa im Rahmen der Vereinten Nationen. Aber selbst eine UNO-Untersuchungskommission oder einen Sonderberichterstatter muss ein Staat nicht ins Land lassen, wenn er nicht will.

Wäre der Erste Weltkrieg eigentlich zu verhindern gewesen, wenn es schon die Vereinten Nationen oder einen Völkerbund gegeben hätte?

BENEDEK: Zu verhindern gewesen wäre der Erste Weltkrieg auch ohne UNO oder Völkerbund - wobei diese Institutionen sehr wohl schon geholfen haben, Kriege zu verhindern. Wenn ich aber die historischen Ereignisse richtig deute, war auf allen Seiten ein großer Kriegswille vorhanden. Da helfen dann alle Warnungen, alle Vermittlung, alle völkerrechtlichen Mechanismen nicht. Wir haben es im Irak-Krieg 2003 gesehen: Gegen den starken Willen, notfalls unter einem Vorwand zu intervenieren, ließ sich nichts ausrichten.