Serbien hat 1272 Volksschulen, Bosnien samt der Herzegowina dagegen nur 253. In Serbien sind 2375 Lehrer angestellt, in Bosnien 810. Aber während die Österreicher in Bosnien 1232 Eisenbahnkilometer gebaut haben, bringen es die Serben auf bloße 559. Wer kommt schneller voran, das freie Serbien oder das unterworfene Bosnien? Peinlich genau registrierten vor die Propagandisten in Wien und in Belgrad dem Ersten Weltkrieg, welches der beiden Länder besser dastand.

Hinter dem Wettstreit verbarg sich eine bis heute unentschiedene Grundsatzkontroverse: Wie schafft man den Anschluss? Indem man sich - wie Bosnien - von den Europäern jeden Schritt, jedes Gesetz diktieren lässt? Oder indem man sich - wie Serbien - die Freiheitsliebe westlicher Nationen zum Vorbild nimmt und sich nichts gefallen lässt? Es ist zunächst kein Konflikt, sondern eine Auseinandersetzung um die Frage, was man sich am besten vom Westen abschaut: die Einzelheiten? Oder das Prinzip?

Die balkanische Systemkonkurrenz geht zurück auf das Jahr 1878. Damals entschieden in Berlin die europäischen Mächte, was mit den rebellischen Westprovinzen des Osmanischen Reiches geschehen solle. Die eine, Serbien, hatte sich Autonomie erkämpft und wurde nun in die Unabhängigkeit entlassen. Die andere, Bosnien-Herzegowina, wechselte von der Herrschaft des Sultans in die des Kaisers in Wien.

Von da an wetteiferten die Regierung in Belgrad und das "Gemeinsame Ministerium" Österreich-Ungarns darum, welches der beiden vernachlässigten Länder den schnellsten Weg in die Moderne nehmen würde. Bosnien wurde nach dem Modell des Beamtenstaats umgemodelt. Serbien dagegen hielt sich seit der Ermordung des pro-österreichischen Königs 1903 immer stärker an Frankreich, das Mutterland der Freiheit und der Volkssouveränität. "Rechtsstaat!", riefen die einen, "Freiheit!", die anderen.

Die Kontroverse war unter anderem, eine soziale: In Bosnien, wo seit der Eroberung des Landes durch die Osmanen im 16. Jahrhundert ein Teil der Bevölkerung zum Islam übergetreten war, waren die christlichen Serben und Kroaten muslimischen Grundherren tributpflichtig. Österreich beließ es dabei. Während Serbien und Bulgarien die Agrarfrage gelöst haben, schrieb der serbische Historiker Jovan Cvijic 1908, habe Österreich das Problem in Bosnien nicht angetastet. "Soziale Revolution!", riefen die einen, "sichere Eigentumsverhältnisse!", die anderen.

Cvijic hatte in Bosnien tatsächlich einen Systemfehler ausfindig gemacht: Die neuen Herren waren unsicher, ob sie das Land gegen die alte Machtelite würden regieren können. 100 Jahre später sind die landesfremden Verwalter Bosnien und dem Kosovo von der gleichen Furcht getrieben. Legen sie sich mit den lokalen Tycoons, Warlords und Kriegsgewinnlern an, riskieren sie den Kontrollverlust. Als im Februar Tausende in bosnischen Städten demonstrierten und Dutzende randalierten, geriet der oberste internationale Verwalter des Landes, ein österreichischer Beamter, in einen Zwiespalt. Prosperieren soll das Land, aber nicht politisieren. "Nur den befruchtenden Einfluss des neuen Mittelstands genießend", schrieb 100 Jahre zuvor ein anderer österreichischer Beamter, "ohne vom politischen Getriebe desselben berührt zu sein, haben sich die okkupierten Gebiete" - Bosnien und die Herzegowina - "in wenigen Jahren zu einem modernen Kulturland entwickelt."

Seit den Kriegen der Neunzigerjahre erinnert die ideelle Konkurrenz zwischen Serbien und Bosnien wieder stark an die alte. Der Blick zurück verrät es: In Sarajevo sieht die gebildete Elite die österreichische Zeit, die von 1878 bis 1918 dauerte, in zunehmend mildem Licht - mit der Straßenbahn, dem Stadtbad und der Straßenbeleuchtung als größten Errungenschaften. In Belgrad und im serbischen Teil Bosniens dagegen feiert im staatlichen Auftrag ein Festkomitee das Ende der österreichisch-ungarischen Herrschaft durch die Schüsse von Sarajevo.

Auch der Rest des Kontinents nahm vor dem Ersten Weltkrieg Anteil an der balkanischen Systemkonkurrenz. So geißelte in liberaler Empörung der deutsche Sozialdemokrat Hermann Wendel, ein Freund der Südslawen, die kaiserliche Herrschaft über Bosnien, die nicht einmal die Scharia abgeschafft hatte und zum Beispiel eheüberdrüssige Frauen gewaltsam ihren muslimischen Ehemännern zurückführe. Im hochnäsigen Wien dagegen blühte der Spott über das primitive Serbien und seine Dynastie, die auf einen "Schweinehirten" zurückgehe. Bosnische Rebellen wurden, ganz wie in modernen antiserbischen Karikaturen, als ungepflegt dargestellt und als "Volksprediger" verhöhnt.

Nicht nur freiheitsliebende Serben und kaisertreue Bosnier konkurrierten vor 1914 um die beste Herrschaftsform. Auch anderswo in Europa hatte das Ringen der Mächte seine ideologische Komponente. Die demokratischen Nationen Frankreich und Großbritannien fühlten sich einander nahe, Berlin und Wien mit ihren autoritären Konzepten ebenfalls. In einem wichtigen Punkt aber wich das neue Bündnissystem vom ideologischen Muster ab: Der Zar in Russland, Inbegriff der Autokratie, hielt zu Frankreich statt zu den Kaisern in Berlin und Wien, die politisch doch viel besser zu ihm passten.

Auf der Suche nach dem Gemeinsamen zwischen den ungleichen Alliierten landet man wiederum auf dem Balkan. Für die Entente war Serbien gedanklich ein passendes Bindeglied.

Von Frankreich lieh sich Belgrad den Zentralismus, der sich dazu eignete, aufsässige Minderheiten klein zu halten. Mit den Idealen der Französischen Revolution hatte das Freiheitspathos der Serben zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht viel zu tun. Die Freischärler aller christlichen Balkannationen, die Komitadschi und Tschetniks, traten militärisch auf und pflegten konservative, patriarchalische Werte. Vom Westen wussten sie wenig, und hätten sie ihn gekannt, so wäre er ihnen ähnlich "schwul" vorgekommen wie heute den pro-russischen Rebellen von Donezk die Europäische Union.

Das "Junge Bosnien", dem die jugendlichen Attentäter von Sarajevo sich zurechneten, nahm auf der Suche nach Orientierung zwischen Ost, West und trotziger Selbstbehauptung eine schillernde Stellung ein. Die in Belgrad dominierende Radikale Partei zog ihren Erfolg aus einer eigentümlichen Verbindung von Russophilie mit revolutionären, anarchistischen Idealen: Die Partei trat staatsfern auf, libertär, obrigkeitsfeindlich, antikapitalistisch, ließ damit aber zugleich den mächtigen Familienoberhäuptern mit ihrem hergebrachten Konservatismus ihren Boden.

Die Grundkontroverse, wie die Länder an der südöstlichen Peripherie den Anschluss an den reichen, modernen Westen schaffen, mit Auflehnung oder mit Unterwerfung, blieb im Ersten Weltkrieg und danach unentschieden. Heute ist sie wieder aktuell. Serbien ist zwar mit hohem Tempo in Richtung Europa unterwegs. Wird die Hoffnung auf baldigen Beitritt enttäuscht, kann die Stimmung aber wieder umschlagen: Wie man sich am besten behauptet und entwickelt, ist historisch schließlich ungeklärt. In Belgrad sind dieselben Männer an der Macht, die vor 20 Jahren einen ganz anderen Ausweg aus der Randlage gesucht und die alte, reaktionär-anarchistische Bewegung von vor hundert Jahren wieder aufgelegt haben.

Bosnien schließlich macht die Erfahrung, die es schon einmal gemacht hat: Der Westen hält sein Versprechen nicht. So wie die Österreicher vor 100 Jahren am schleppenden Fortschritt das Interesse verloren, so haben die EU-Länder heute vor der gegenseitigen Blockade der ethnischen Gruppen kapituliert.

Im Volk diesseits und jenseits des Grenzflusses Drina herrscht gegenüber dem Westen dasselbe Amalgam von Hoffnung, Bewunderung, Neid, Stolz und Verdruss über dessen Ignoranz, die vor hundert Jahren eine Teenager-Clique am Gymnasium von Sarajevo zu den Schüssen auf den österreichischen Thronfolger geführt hat. Seit der Ukraine-Krise ist mit einem Russland, das sich Einflusszonen sichern möchte, zu dem explosiven Cocktail eine weitere Ingredienz hinzugekommen. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.