Ein Gespräch mit Valentin Inzko und Alfred Gusenbauer, zwei Österreichern in politischen Schlüsselpositionen auf dem Westbalkan - 100 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Sarajevo.

Herr Botschafter, welche Rolle für Ihre Tätigkeit in Bosnien spielt Ihre Herkunft?

VALENTIN INZKO: Österreich hat auf dem Balkan eine Sonderstellung. Nach dem Berliner Kongress 1878 kam es im Verwaltungsbereich zu einem Modernisierungsschub in Bosnien, die erste elektrische Straßenbahn wurde in Sarajevo getestet, ein Jahr vor Wien. Österreich hat also eine gute Nachrede. Beim positiven Bild Österreichs spielt auch die große humanitäre Hilfe nach dem Bürgerkrieg eine wichtige Rolle. Österreich ist der größte Investor auf dem Balkan. Zurzeit spricht man in Bosnien viel vom Attentat am 28. Juni 1914. Also ist Österreich zwangsläufig in aller Munde.

In Belgrad wird der Blick auf Österreich ein anderer sein?

ALFRED GUSENBAUER: Mittlerweile gibt es einen positiven Prozess der Normalisierung zwischen Prishtina und Belgrad. In diesem Zusammenhang muss man auch darauf hinweisen, dass die jüngere Geschichte des Westbalkans auch eine Erfolgsgeschichte europäischer Außenpolitik darstellt. Ich persönlich hatte für mein Engagement in Serbien durchaus eine Motivation, die im Zusammenhang mit dem Attentat auf den Thronfolger steht: Vor 100 Jahren war die Feindschaft zwischen Österreich und Serbien mitentscheidend für den "Großen Krieg", für die Jahrhundertkatastrophe. Heute kann ich als früherer Bundeskanzler Serbien auf dem Weg nach Brüssel unterstützen. Ich werte dies als einen positiven, anderen Blick auf die Geschichte. Zudem ist meine Tätigkeit in Belgrad keine solitäre Veranstaltung, sondern steht in Übereinstimmung mit der österreichischen Außenpolitik. Österreich ist mit Sicherheit der größte Unterstützer Serbiens für einen EU-Beitritt. Wien ist zu Recht der Überzeugung, dass Serbien eine zentrale Rolle für die Stabilität am Westbalkan einnimmt. Nach 1945 kam es aufgrund der Integrationspolitik zur Versöhnung in Westeuropa, 1989 wurde der Eiserne Vorhang zerrissen und jetzt könnte die EU erneut eine welthistorische Leistung bewirken, nämlich mit ihrem Beitrag zur dauerhaften Versöhnung auf dem Westbalkan.

INZKO: Das sollte die zentrale Aufgabe unserer Generation sein. Ich möchte daran erinnern, dass der serbische Ministerpräsident Aleksandar Vucic seinen ersten Auslandsbesuch in Sarajevo abgestattet hat - und nicht in Banja Luka (Regierungssitz der Republika Srpska, Anmerkung).

Der frühere Nationalist?

INZKO: Das war er einmal. Ich erkenne bei Vucic den Menachem-Begin-Effekt. Die neue serbische Regionalpolitik ist die beste seit 20 Jahren.

GUSENBAUER: Der Besuch von Vucic in Sarajevo war ein klares Zeichen. Serbien respektiert und unterstützt den eigenständigen Weg von Bosnien-Herzegowina. Österreich war auch das erste EU-Land, das Vucic besucht hatte. Wenn man den Westbalkan verstehen will, muss man wissen, dass hier Symbole extrem wichtig sind.

Es gibt also keine Ressentiments gegenüber Österreich?

GUSENBAUER: Ich hatte in Serbien nie den Eindruck von Ressentiments mir gegenüber, weil ich Österreicher bin. Interessant ist auch: Wenn dir in Belgrad einer sagt, er fährt übers Wochenende nach Europa, dann meint er Wien. In Österreich leben zudem 300.000 gut integrierte Serben.

INZKO: Serbien wurde noch zu Zeiten von Slobodan Milosevic wie ein Aussätziger behandelt. Das hat sich mit Vucic radikal geändert. Es gibt also keine schlechten Völker, aber es gibt schlechte Politik!

Mir kommt nun mit dem Schriftsteller Peter Handke ein weiterer Österreicher in den Sinn, der für Serbiens jüngere Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Er hat mit seiner "Winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" zu einer Zeit, als die westeuropäische Politik und die westeuropäischen Medien Serbien als alleinigen Aggressor in den Balkankriegen brandmarkten, eine Gegenstimme erhoben.

INZKO: Ich bin mit Peter gut befreundet. Er ist in Serbien sehr beliebt. Er sagte einmal, dass er den Frauen nicht immer treu gewesen war, dem serbischen Volk aber immer. Für Handke war Jugoslawien ein idealisierter Vielvölkerstaat. Zudem kannte er viele einfache Menschen in Serbien, die er ob ihrer Weisheit schätzen gelernt hatte. Für ihn wurde Serbien zu einem Rest-Jugoslawien.

Für viele ist daher auch Sarajevo zu einem Sehnsuchtsort geworden.

INZKO: Verständlich. Sarajevo mit seinen vier Religionen, die nebeneinander friedlich existieren konnten: die orthodoxen Serben, die katholischen Kroaten, die bosnischen Muslime und die sephardischen Juden. Die Aufnahme der Juden vor 500 Jahren war sehr freundlich, es gab kein Ghetto, man nannte Sarajevo Klein Jerusalem. Der Bürgerkrieg wurde für Sarajevo zur Tragödie. Aber der alte Geist der Stadt lebt wieder auf. Erkennbar war er jetzt mit der Menschlichkeit und der Nachbarschaftshilfe in den Tagen der Hochwasserkatastrophe.

GUSENBAUER: Ich hoffe auch, dass sich in Österreich das Bild über die Länder am Westbalkan ändert. Der Schatten von Milosevic liegt noch immer über Serbien. Ich will Srebrenica nicht verdrängen, aber es braucht ein anderes Bild von Serbien. Für den Westbalkan bedeutet Europa Aufschwung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Als Parallele von 1914 zu 2014 kommt einem auch das Verhältnis zwischen Moskau und Belgrad in den Sinn.

GUSENBAUER: In Serbien besteht eine tragfähige Achse mit Russland. Dies ist kulturell begründet. Zudem wirken die langen Schatten des Bürgerkriegs nach.

INZKO: Die Nato-Bombardierung Belgrads spielt da eine zentrale Rolle.

GUSENBAUER: Falsch wäre es, mit einem Blick zurück auf das Jahr 1914 Serbien ein gespaltenes Herz zu unterstellen. Aber man darf auch niemanden überfordern. Es gibt eine enge wirtschaftliche Verknüpfung mit Moskau. Und Serbien ist in keiner sehr guten ökonomischen Situation.

Sie sprechen mögliche Sanktionen gegen Russland an.

GUSENBAUER: Sanktionen wären für Belgrad die Aufforderung zum ökonomischen Selbstmord.

Das Bild vom Westbalkan ist hierzulande vor allem durch Korruption gekennzeichnet.

INZKO: Die Korruption am Balkan ist auch kein Vorurteil, sondern Realität. Die Korruption ist weit verbreitet. Deshalb braucht es auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Länder, deshalb braucht es die klare Westorientierung. Die Politik muss über ihren nationalen Schatten springen, muss sich neu organisieren. Die andere Seite macht das schon lang. Deshalb spricht man von organisierter Kriminalität. Die Menschen am Balkan erhoffen sich mit der EU-Mitgliedschaft das Ende der Korruption.

GUSENBAUER: Der Kampf gegen die Korruption ist in Serbien ernsthaft. Aber er wird noch anhaltend und zäh sein.

INZKO: Dies ist mit ein Grund, warum ich mir für Bosnien einen baldigen EU-Kandidatenstatus wünsche. Es täte dem Land gut. So wie die Teilnahme von Bosnien-Herzegowina an der Fußball-WM in Brasilien. Das ist wie Balsam für das geschundene Volk. Ein Kandidatenstatus wäre eine Bestätigung für den politischen Kurs. Das 20. Jahrhundert hat mit den Schüssen in Sarajevo tragisch begonnen . . .

GUSENBAUER: . . . und sollte mit der Integration des Westbalkans seinen verspäteten, positiven Abschluss finden.