MICHAEL FLEISCHHACKER: Ob die Österreicher die unfreundlichsten Menschen der Welt sind, kann ich wirklich nicht sagen. Denn: Afrika ist kein Land und den Österreicher gibt es nicht, vor allem was die Freundlichkeit betrifft. Sie sind Vorarlberger, lieber Thurnher, ich bin Steirer, was die Freundlichkeit angeht, haben wir ungefähr so viel miteinander zu tun wie Ghanaer und der Somalier. Andererseits ist mein Lebensmittelpunkt derzeit Wien, und deshalb kann ich, wenn ich gefragt werde, zu Protokoll geben, dass man die hinterhältige Form der Freundlichkeit, die den Umgangston in dieser Stadt prägt, auch als Unfreundlichkeit interpretieren kann, wenn man will.

ARMIN THURNHER: Gerade Wien ist aber berühmt für seine Unfreundlichkeit, also besser gesagt, die Wienerinnen und Wiener sind es, die bekanntlich nur aus Zugewanderten bestehen, welche in der Umfrage, die an diesem Dialog Schuld trägt, als "Expats" bezeichnet werden. Wir beide sind also "Expats", die zur wienerischen Unfreundlichkeit das unsere beitragen. Die berühmte Vorarlberger Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit lässt sich auch am besten von außen behaupten, bei innerer Ansicht verblasst sie. Andererseits finde ich es auch ungerecht, den Wienern pauschal Unfreundlichkeit anzulasten, denn was täten wir mit freundlichen Kaffeehausobern? Die müssen doch grantig sein, sonst sind wir Gäste irritiert und fühlen uns nicht wohl.

FLEISCHHACKER: Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit wären nun wirklich nicht das gewesen, was ich zuallererst mit den Vorarlbergern verbunden hätte, aber wir sehen schon, wie schnell man, wenn man Eigenschaften zu kollektivieren beginnt, in Teufels Küche kommt. Vielleicht müssen wir noch einmal versuchen, zwischen dem, was der Wiener Grant nennt und dem, was der Rest der Welt als Unfreundlichkeit bezeichnet, zu unterscheiden. Denn der Grant, zumal jener der Kaffeehauskellner, ist eine Form der zur Schau gestellten, im unmittelbaren Wortsinn theatralischen Unfreundlichkeit, die sich mitunter wohl verselbständigt, eine Art außer Kontrolle geratene Selbstironie vielleicht, die mich ein wenig an den griesgrämigen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erinnert.

THURNHER: Sehr richtig. Der Wiener Grant ist ein äußerst dialektisches Verhalten, das man, triebe man die Interpretation auf die Spitze, als Rettung der Freundlichkeit betrachten könnte. Er ist sozusagen das Gegenstück zu jener industrialisierten Herzlichkeit, die uns in Schnellrestaurants und Supermärkten empfängt, wo uns das Personal so oft ein scheinbar freundliches "Grüß Gott" entgegenruft, bis wir es nicht mehr hören können. Ich grüße nicht zurück, weil ich weiß, die tun nur ihre Pflicht und meinen nicht mich. Andererseits lächelt man doch, wenn man in einem Geschäft oder Lokal mechanisch angegrinst wird. Der Wiener Ober bringt den Kaffee schnell und effizient; am schlimmsten wäre es, er würde uns freundlich angrinsen und uns schlecht bedienen.

FLEISCHHACKER: Interessant aber auch, wie gut wir Österreicher darin sind, uns ein eher nicht so gutes Urteil von außen in der Sekunde schönzureden, indem wir im gegenständlichen Fall behaupten, dass die Unfreundlichkeit eigentlich eh gar keine Unfreundlichkeit ist (ich) oder aber, dass eigentlich die Unfreundlichkeit ohnehin die bessere, effizientere Haltung ist (Sie), weil es so etwas wie ehrlich-authentische Freundlichkeit gar nicht gibt. Das nun aber ist, glaube ich, nicht wahr. Lassen Sie uns also doch festhalten, dass die Freundlichkeit eine schöne Eigenschaft oder Verhaltensweise ist, so wie die Herzlichkeit auch. Ich muss gerade an das schöne Büchlein "Die Herzlichkeit der Vernunft" von Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach denken, ein Gespräch über die Grundfragen des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens, geführt im Ton der Freundlichkeit. So etwas würde ich mir schon sehr wünschen für unsere öffentlichen Debatten.

THURNHER: Da haben Sie recht, und wir beide bilden da vielleicht eh eine gewisse Ausnahme. In der anlassgebenden Umfrage ging es, glaube ich, weniger um öffentliche Debatten als um die Fähigkeit, Fremde willkommen zu heißen. Ich durfte als junger Mensch in den USA die Erfahrung machen, dass man schnell eingeladen, wenn nicht geradezu eingemeindet war. Diese Offenheit wird den Österreichern (wie auch den Deutschen und Schweizern) abgesprochen, es wird ihnen pauschal eine gewisse Feindseligkeit allen Fremden gegenüber angelastet. So sehr ich Ihre Skepsis gegen Pauschalurteile verstehe und billige, muss ich doch zugeben, da ist was dran. Zumal gegenüber Fremden nicht Herzlichkeit und Freundlichkeit als Verhaltensformen propagiert werden, sondern Unfreundlichkeit und Abweisung. Das fürchterliche Wort "Humanitätsduselei" hängt wohl damit zusammen, dass uns alles Menschliche fremd bleiben kann, wenn es nicht das eigene ist.

FLEISCHHACKER: Da geht es wohl ganz stark um den Unterschied zwischen abstrakten Haltungen und konkreten Handlungen. Nicht zufällig zeigen die Ergebnisse vieler solcher Umfragen, dass die Ablehnung gegenüber Fremden dort besonders groß ist, wo gar keine sind. Und dort, wo es konkret wird, funktioniert es sehr oft sehr gut, wenn es nicht zu einer zahlenmäßigen Überforderung kommt. Wenn ich in einer 1000-Seelengemeinde 200 junge Männer aus Nordafrika einquartiere und mit freundlicher Aufnahme rechne, haben nicht die Einwohner der 1000-Seelen-Gemeinde ein intellektuell-emotionales Problem, sondern ich. Ein bisschen ist das wie in den sozialen Medien: Der Ton wird unfreundlich, wenn man kein konkretes Gegenüber hat. Besonders dezidierte Weltanschauungen haben ja hauptsächlich Menschen, die die Welt gar nicht so viel anschauen.

THURNHER: Das stimmt. Aber es geht nichts über Erfahrungen. Bei Kontakten mit Behörden, der Fremdenpolizei oder mit zuständigen Magistraten, die überhaupt unerreichbar sind, kann man solche Erfahrungen machen (oder sie sich aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis berichten lassen), wie man sie in skandinavischen Ländern eben nicht macht. Da ist ein Grad von Abweisung und Verpanzerung erreicht, der unser schönes Land halt doch – abgesehen vom Ungeschick und böser Absicht der Fremdenpolitik – als fremdenunfreundlich erweist, solange man die Fremden nicht touristisch melken kann. Dass es trotzdem viele Hilfsbereite gibt, ist bekannt. Aber die Proportionen scheinen nicht zu stimmen.

FLEISCHHACKER: Ich kenne Skandinavien nicht gut genug, um sagen zu können, ob das dort prinzipiell anders ist, aber das, was ich in letzter Zeit über die dänische Migrations- und Integrationspolitik gelesen habe, deutet mir darauf hin, dass wir da mit verklärtem Blick dem alten Mythos vom schwedischen Asylparadies der 70er-Jahre nachhängen. Wahr ist gleichwohl: Dort, wo man der Politik prinzipiell größeres Vertrauen schenkt, wird das Misstrauen auch nicht auf die Fremden übertragen. Die Österreicher misstrauen der österreichischen Politik und das spricht bei allen problematischen Folgen, die es haben kann, doch sehr für sie. Ich kann mit der Klage über die wachsende Politikverdrossenheit wenig anfangen. Mehr Sorgen muss man sich doch um den Geisteszustand der Menschen machen, die von dieser Politik nicht verdrossen sind.

THURNHER: Hätten wir das auch gesagt. Ich aber sage euch: Seid freundlich zu Fremden, und zwar nicht aus Nächsten-, sondern aus Eigenliebe, denn eines Tages wird es eurem Land zum Nachteil gereichen, wenn es – zu Recht oder nicht – als fremdenunfreundlich gilt.