Seit 20 Jahren setzen Sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein, jetzt sind Sie ihre Anwältin. Welche Benachteiligungen erfahren sie?

CHRISTINE STEGER: Wie lang haben Sie Zeit? Es hat „Tradition“, Menschen mit Behinderung anders zu behandeln, obwohl sie per Gesetz gleichgestellt sind. Das beginnt im Kindergarten. Man sollte auch mit Behinderung mit anderen Kindern aufwachsen. Doch es werden schon in jungen Jahren Sonderwelten geschaffen, so als wäre der natürliche Lebensraum für Menschen mit Behinderung andere Menschen mit Behinderung. Diese Ungleichheiten sind keine Naturgesetze, man könnte Geld in die Hand nehmen und das alles ändern. Aber die Lebenswelten bleiben weiter getrennt. Das offenbart sich einem auch bei der Frage, wie viele Menschen mit Behinderung man selbst kennt. Im Land leben immerhin 1,6 Millionen betroffene Menschen.

Dennoch kommen sie in Medien kaum vor – außer im Behindertenspitzensport als Helden oder im Wohltätigkeitssektor als Opfer. Warum?

Das ist das Problem. Spitzensportler sind immer Ausnahmeerscheinungen, aber hier schwingt Behindertenfeindlichkeit mit. Man unterstellt, dass der Großteil nichts leisten kann. Im Charitybereich werden Menschen mit Behinderung zudem als Opfer dargestellt und nicht als Menschen, die schlicht auf Spenden angewiesen sind, weil der Staat nicht für die nötige Hilfe aufkommt. Wenn ich mir anschaue, wie eine Mutter, die ihren mehrfach behinderten Sohn seit 30 Jahren pflegt, im Fernsehen dankbar ihr Gesicht zeigen muss, um einen Lift fürs Bad zu bekommen, ist das zum Genieren.

Die Kritik kam auch von Behindertenvertretern an „Licht ins Dunkel“, es brauche Empathie statt Mitleid. Mit Letzterem lassen sich aber Spenden lukrieren, die Betroffenen zugutekommen. Zählt das nicht?

In Deutschland sammelt die Aktion Mensch auch Spenden, ganz ohne Mitleidsbilder. Zudem wäre es mir lieber, dass die Politiker, die bei „Licht ins Dunkel“ klatschen, den Rest des Jahres vernünftige Inklusionspolitik in ihren Ressorts machen.

Menschen mit Behinderung anzustellen, ist ab einer gewissen Unternehmensgröße verpflichtend. Trotzdem zahlen viele Firmen lieber eine hohe Ausgleichstaxe. Ist es so unattraktiv, diese Gruppe einzustellen?

Der Arbeitsmarkt baut auf Qualifikation. Aber wer in eine Sonderschule kommt, macht keinen Abschluss, keine Ausbildung und wird oft als arbeitsunfähig klassifiziert. Dann bleibt nur noch die Tagesstätte, in denen die Menschen jahrzehntelang sitzen, nur Taschengeld bekommen und nicht pensionsversichert sind. So bringe ich keinen in Beschäftigung. Zudem gibt es in Unternehmen die Angst, dass man Menschen mit Behinderungen nicht kündigen kann – was nicht stimmt. Aber immerhin füllt sich der Ausgleichstaxenfonds, der Qualifikationsmaßnahmen fördert.

Woher kommt dieses generelle Misstrauen?

Wir müssen uns hier mit unserer Geschichte im Bezug auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung auseinandersetzen. Während es in den USA seit den 70ern entsprechende Antidiskriminierungsgesetze gibt, entstand unseres 2006. Das Gesetz zur Sterilisation von behinderten Menschen wurde erst 2000 abgeschafft. Inzwischen haben wir Rechte, deren Umsetzung aber oft am Geld scheitert. Und an föderaler Kompetenzverteilung.

Neun Bundesländer, neun Systeme zur Unterstützung von Betroffenen. Sind die Unterschiede so groß?

Ja. Persönliche Assistenz ist die Grundlage für selbstbestimmtes Leben. Aber die Postleitzahl entscheidet weiterhin darüber, in welchem Ausmaß das möglich ist.

Zur Assistenz und das nicht vorhandene Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr wurden Klagen eingebracht. Muss man den Staat heute klagen, weil sich sonst nichts tut?

Ja. Bitter, oder?

Wird das etwas ändern?

Ich bin großer Fan davon, das im Rechtsstaat auszustreiten, um zu Dingen zu kommen, die einem zustehen. Und wenn es Judikatur gibt, kann man sich darauf berufen. Trotz Gleichstellungsgesetz kann man in Österreich übrigens nicht auf Beseitigung oder Unterlassung klagen, sondern nur auf Schadenersatz. Wenn sich der Hausarzt nebenan weigert, Stufen am Eingang mit einer Rampe für meinen Rollstuhl zu versehen, kann ich das mit ihm juristisch ausstreiten. Wenn ich gewinne, bekomme ich im Idealfall Geld, aber keine Rampe. Man darf nicht vergessen, dass die Konfrontation auch unangenehm für betroffene Menschen ist. Die haben, im Gegensatz zu mir, keine Haare auf den Zähnen.

Sie haben 2017 für die Grünen in Salzburg kandidiert, die auf Inklusion gepocht hatten. Heute regieren sie, getan hat sich dennoch nichts. Sind Sie von Ihrer Partei enttäuscht?

Unsere Erwartungen waren hoch und man muss klar sagen, dass sie diese bis jetzt nicht erfüllt haben. Die Pandemie hat daran einen Anteil, aber ich glaube, dass mit Sozialminister Johannes Rauch jetzt mehr Bewegung in die Sache kommt. Bis zur nächsten Wahl wäre einiges zu tun.

Seit 2008 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich in Kraft. Erst im Herbst wurde ein Aktionsplan zur Umsetzung bis 2030 beschlossen, und auch das wird sich kaum ausgehen. Wie kann das sein?

Für Österreich ist das sehr peinlich, auch im Vergleich zu anderen Ländern. Das muss die Regierung angehen.

Viele können die Parteien für ihre Untätigkeit nicht abstrafen, weil die informativen und physischen Hürden bei Wahlen zu hoch sind.

Ja, wir haben hier immensen Aufholbedarf. Natürlich ist nicht für alle 1,6 Millionen im Land keine Stimmabgabe möglich. Aber wir müssen uns schon überlegen, was das für die politische Partizipation heißt.

Sie beschäftigen sich an der Uni Salzburg auch mit Genderfragen. Was bedeutet Ihnen der Posten als erste weibliche Behindertenanwältin?

Es ist reichlich spät, dass das bis 2023 gedauert hat. Aber natürlich bedeutet mir das als Feministin viel.

Nach einem Unfall tragen Sie seit vielen Jahren eine Oberschenkelprothese. Schärft das die Perspektive auf die Bedürfnisse der betroffenen Gruppe?

Ich war immer ein sehr politischer Mensch, mein Unfall hat mich aber radikalisiert. Ich bin draufgekommen, wie viele Steine einem in den Weg gelegt werden. Und Leute, die mich mein Leben lang kannten, wussten plötzlich nicht mehr, was sie mit mir tun sollen. Ich habe mir das alles einfach nicht gefallen lassen. Ich selbst kann keine Rollstuhlrampen bauen oder das hier notwendige Geld im Keller drucken lassen. Aber mein Anspruch an mich lautet: Ich schulde das Bemühen. Und das werde ich tun.