MICHAEL FLEISCHHACKER: Es kommt natürlich, wie immer, ein bisschen darauf an, wen wir mit 'wir' und was wir mit 'korrupt' meinen, wenn wir fragen, ob wir alle ein bisschen korrupt sind, aber meine Abneigung gegenüber dem imperativen Wir und meine nahezu angeborene Vorsicht gegenüber Menschen, die freundlich sind, lassen mich sagen: Nein, wir sind nicht alle ein bisschen korrupt. So leicht sollten wir es uns nicht machen.

ARMIN THURNHER: Die Frage zielt nicht auf uns persönlich, schließt uns aber insofern ein, als es darum geht, ob und wie endemisch Korruption ist. Vielleicht sollten wir unterscheiden zwischen Korruption als Missbrauch von Macht und dem Alltagsverständnis von Korruption, das einfach einen, sagen wir schlampigen Umgang mit Gesetzen und allgemeingültigen Regeln bedeutet, Sie würden gewiss sagen, mit unmoralischem Verhalten. Das 'wir' betrifft den allgemein österreichischen Zustand, wo sich beides in geradezu kosmischem Ausmaß vermischt.

FLEISCHHACKER: Ich würde eher eine andere Unterscheidung vorschlagen, denn Machtmissbrauch ist Machtmissbrauch und Korruption ist Korruption. Unter Korruption verstehe ich, dass überall dort, wo es institutionell wird, also nicht nur im Staat, sondern auch in Unternehmen und NGOs, gegen geldwerte Vorteile Dinge getan werden, die gegen die Regeln oder Gesetze sind. Alles andere ist Schlampigkeit. Diese weiche Spielart der Korruption erleben wir überall und besonders in unserer Branche: Dass Menschen nicht mehr sagen, was sie denken und ihr Bemühen um eigenständiges Denken aufgeben oder hintanstellen, weil sie fürchten, dann keinen Job beim ORF zu bekommen, oder die Chance verspielen, von Armin Wolf auf Twitter als Talent gelobt zu werden.

THURNHER: Ja, würde man der Macht eines beliebigen Redakteurs wegen, zum Beispiel gern auch bei ServusTV oder beim 'Falter', sein Verhalten anpassen, um einen Vorteil zu erlangen, wäre das durchaus korrupt. Ich beharre darauf: Korruption ist Machtmissbrauch, ist, andere zu veranlassen, ihr Verhalten zu ändern, mit Geld oder mit anderen Mitteln. Und es ist korrupt, diesem Druck nachzugeben. Allerdings erleben wir derzeit ein Schauspiel der dritten Art: Korruption wird so breitgeredet, dass am Ende die ÖVP als die alltagstauglichste und realistischste aller Parteien dasteht. Cosi fan tutte, so machen’s eh alle. Flood the zone with corruption, sozusagen.

Armin Thurnher, Michael Fleischhacker
Armin Thurnher, Michael Fleischhacker © KK

FLEISCHHACKER: Genau deshalb bin ich auch dagegen, alle Formen von Fehlverhalten, vom Machtmissbrauch bis zum Ladendiebstahl, als Korruption zu bezeichnen. Wenn alles Korruption ist, ist nichts Korruption, und dann passiert genau das, was Sie befürchten. Die entscheidende Frage für den politischen Betrieb scheint mir zu sein, ob es strukturelle Anreize zur Korruption in Österreich gibt, und siehe da: Ja. Unter dem Vorwand der engen Kooperation nach den Schrecknissen des Bürgerkrieges hat man nach dem Krieg ein System aufgebaut, das man euphemistisch Sozialpartnerschaft nannte, das aber über Jahrzehnte hinweg in weiten Teilen eine Korruptionspartnerschaft war, weil ihr wesentliches Strukturelement die Intransparenz gewesen ist.

THURNHER: Da stimme ich Ihnen teilweise zu, aber die Sozialpartnerschaft war nicht wesentlich intransparent, sie entstand nur unter Bedingungen, die allgemein Intransparenz begünstigten, oder Österreich den Aufbau einer demokratischen Öffentlichkeit ersparten: die Besatzung und das Verhalten der Eliten ihnen gegenüber, mit dem Ziel, einen ungeteilten Staat und die Unabhängigkeit des Landes zu erhalten. Es spricht ja auch nicht gegen die Existenz politischer Parteien, dass die Parteizugehörigkeit bis in unsere Tage als Voraussetzung der Alltagskorruption dient. Sprich: Ohne Parteibuch wird man nix. Die Generation Kurz hat die teilweise schon schwächelnde Parteibuchkorruption radikal revitalisiert, wie auch die Medialpartnerschaft, das illegitime korrupte Kind der Sozialpartnerschaft.

FLEISCHHACKER: Ich denke, 'Generation Kurz' ist ein wesentliches Stichwort. Denn die Vorgänge in der türkisen Volkspartei unterscheiden sich meiner Einschätzung nach von den Vorgängen etwa in der Wiener Sozialdemokratie durch nichts außer die Tatsache, dass in der Wiener Sozialdemokratie alle eine Generation älter sind, sich weniger zeitgenössischer Kommunikationsmittel bedienen und die Medialpartnerschaft auf eine Weise perfektioniert haben, die ihnen einen unaufgeregten Pensionsantritt gewährleistet. Das macht das, was das Biotop Kurz veranstaltet hat, um nichts besser, aber es ist ein weiterer Hinweis darauf, dass wir einfach zu viele strukturelle Korruptionsanreize in unseren Systemen eingebaut haben. Und dass auch die Frage, wie lange eine Partei an den Schalthebeln sitzt, nicht ganz unwesentlich ist.

THURNHER: Auch da würde ich gern differenzieren. Sebastian Kurz hat Werner Faymanns Art der Medialpartnerschaft zweifellos radikalisiert, wie auch seine Art des Parteimanagements. Den Unterschied zwischen Wien und dem System Kurz möchte ich klavierspielen können: Das zugrunde liegende politische Ziel bringt durchaus unterschiedliche Ergebnisse hervor: hier eine auf Allgemeinwohl orientierte Politik, dort, bei Kurz, eine radikale Fokussierung auf das Wohl der eigenen Blase und deren Umfeld. Hier ein starker Etatismus, dort die Zerschlagung des Staates. Deswegen dient hier die Inseratenkorruption dem Systemerhalt, dort dem persönlichen Machterhalt. Falsch ist sie jedenfalls, da haben Sie recht. Auch, dass die Dauer des Machterhalts ein Problem ist. Wie die FPÖ regelmäßig zeigt, geht Korruption aber auch im Blitztempo.

FLEISCHHACKER: Ich finde den Gedanken, dass ein die Korruption begünstigendes System im einen Fall der Allgemeinheit dienen könnte und im anderen Fall nur den Korrupten sehr verlockend, aber auch ein bisschen dings. Letztendlich wird man wohl sagen müssen, dass wir in Österreich strukturell und historisch vor allem an einem Mangel an fairem Wettbewerb leiden. Wettbewerb gilt hierzulande als neoliberales, darwinistisches Teufelszeug, ist aber eine der wesentlichen Barrieren gegen Korruption. Man hat Angst vor Konkurrenz und Sehnsucht nach Konsens, und am Ende wundert man sich, dass der Konsens nicht einfach so entstanden ist, sondern durch unterschiedlichste Arten von Schweigegeld.

THURNHER: Ein System, das Selbstbeschränkungen enthält, ist vermutlich der Korruption weniger zuträglich als eines, das zur schrankenlosen Bereicherung ermuntert. Deswegen bin ich froh, dass Sie 'fairer Wettbewerb' sagen. Aber es liegt, fürchte ich, nicht nur am System, nicht einmal am Schweigegeld. Sondern auch an der Widerstandskraft und, ja, am Mut der Einzelnen. Darin sind wir gewiss nicht Weltmeister, aber das wäre vielleicht eine andere Debatte. Oder die gleiche, nur anders.