Dass Herbert Kickl zum Anwalt der Freiheit, zum Beschützer der Bürger vor einem repressiven Staat werden könnte, wäre noch vor zwei Jahren mehrheitlich als Treppenwitz der Ideengeschichte interpretiert worden. Und zwar von Freund und Feind gleichermaßen. Kickl war damals Innenminister der ÖVP-FPÖ-Koalition und er war, ebenfalls für Freund und Feind gleichermaßen, die fleischgewordene Bereitschaft zur Repression. Man nennt den Flirt mit dem Polizeistaat hier in Österreich gern „Law and Order“, weil man es mit der Ideengeschichte nicht so genau nimmt und deshalb nicht weiß, dass „Law and Order“ ein liberales Prinzip ist, das Freiheit garantieren, nicht einschränken soll.

Man ist versucht, an den Beginn des „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ von Karl Marx zu denken. An dessen Beginn heißt es, Hegel habe irgendwo gesagt, „dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen. Das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce“. Marx analysiert in seiner Schrift die Februarrevolution und den Staatsstreich Louis Napoleons als Wiederholung der Tat seines Onkels Napoleon Bonaparte im November 1799.

Herbert Kickl würde diese Analogie vermutlich gefallen. Aufgewachsen in Oberkärnten, wo er gemeinsam mit seiner späteren politischen Rivalin, der langjährigen Grünen-Chefin Eva Glawischnig, die Schule besuchte, studierte er später neben Publizistik und Politikwissenschaften auch Philosophie, beides ohne Abschluss. Hegel, ließ er im vergangenen Spätsommer anlässlich des 250. Geburtstages des Jenaer Giganten wissen, sei sein Lieblingsphilosoph. Man würde ihn zwar eher den Rechtshegelianern zurechnen, aber wie schon sein früheres Idol Jörg Haider hat Herbert Kickl durchaus etwas für den Klassenkampf übrig. Wenn es sein muss.

Herbert Kickl hat immer das getan, was sein musste, und zwar als Stratege und Kommunikationsexperte im Hintergrund. Als Redenschreiber war er für einige von Jörg Haiders berühmtesten Pointen verantwortlich, etwa die Charakterisierung des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac als „Westentaschennapoleon“. Als Haider die Partei spaltete und das „Bündnis Zukunft Österreich“ gründete, blieb Kickl bei der „alten“ FPÖ und festigte unter Parteichef Heinz-Christian Strache seine Rolle als strategisches Gehirn der Bewegung. Böse Zungen charakterisierten ihn als Straches Hirnprothese, Kickls Domänen blieben jedenfalls die Kommunikation und das Kampagnenmanagement. Es folgten weitere eingängige Slogans für Straches Ausländer-Wahlkämpfe wie „Daham statt Islam“ oder „Wiener Blut – zu viel Fremdes tut niemand gut“.

Gemeinsam mit Strache organisierte Kickl die Fundamentalopposition gegen die wiedergekehrte „Große Koalition“ aus SPÖ und ÖVP, die auf beiden Seiten mehrere Partei- und Regierungschefs verschliss und über weite Strecken in erbittertem Streit und im Stillstand verharrte. Mit Erfolg: Nach der Herbstwahl 2017 kam es erneut zu einer ÖVP-FPÖ-Regierung, mit Sebastian Kurz als Kanzler und Heinz-Christian Strache als Vizekanzler. Mit der Regierungsbildung trat auch die graue Eminenz Herbert Kickl aus dem Schatten. Eigentlich hatte er Sozialminister werden wollen, es wurde aber das Innenressort. Sofort ging er in dem Amt, das 15 Jahre lang von ÖVP-Ministern geleitet worden war, ans „Aufräumen“.

Dabei spielte Kickl ein Papier in die Hände, das während des Wahlkampfs zirkuliert war und in dem von Korruption und Machtmissbrauch im Innenressort, vor allem aber im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) die Rede war. Es folgte eine Razzia im BVT, die sich samt parlamentarischem Untersuchungsausschuss zu einem der großen Skandale der österreichischen Innenpolitik auswachsen sollte. Und auch in der Migrations- und Integrationspolitik setzte Kickl Akzente. So ließ er im legendären Flüchtlingslager Traiskirchen die Türschilder wechseln: Aus dem „Aufnahmezentrum“ wurde ein „Ausreisezentrum“.

Auch im Schlussakt der ÖVP-FPÖ-Regierung nach der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ spielte Kickl eine Hauptrolle: Die FPÖ wollte die Koalition nach dem Rücktritt Straches fortsetzen, diese Fortsetzung war nach Aussage Kickls auch bereits vereinbart worden, da stellte Sebastian Kurz eine zusätzliche Bedingung: Kickl müsse als Innenminister weichen. Begründung: Kickl sei zur Zeit, in der Strache über die halblegalen Parteispenden gesprochen hatte, Generalsekretär der Partei gewesen, es sei unmöglich, dass er nun als Innenminister für Ermittlungen in einer Angelegenheit verantwortlich sei, die ihn selbst betreffe. Auf Antrag des Kanzlers entließ der Bundespräsident Herbert Kickl als ersten Minister der Zweiten Republik aus dem Amt.

Mit dem Bonus des Märtyrers und angetrieben von der großen Kränkung wurde Kickl im folgenden Wahlkampf endgültig vom Hintergrund-Strategen zum Frontmann. Er füllte mit seinen Polemiken gegen Sebastian Kurz die Bierzelte, leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung des Totalabsturzes der FPÖ nach dem Ibiza-Skandal und erreichte mit mehr als 75.000 Vorzugsstimmen ein besseres Ergebnis als Heinz-Christian Strache im Wahlkampf davor. Als Klubobmann im Parlament war er ab sofort der eigentlich starke Mann in der FPÖ, er stellte Parteichef Norbert Hofer von Beginn an in den Schatten. Mit seinem kompromisslosen Kurs gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Koalition aus FPÖ und Grünen hat Herbert Kickl, an dessen außerordentlicher intellektueller Kapazität auch seine Gegner keinen Zweifel haben, für die FPÖ das Oppositionsmonopol wiedererrungen, und jetzt stellt er den Führungsanspruch in einer Partei, der er mehr als zwei Jahrzehnte im Hintergrund diente.

Das ist ungewöhnlich für einen Mann, der immer größten Wert auf seine Privatsphäre gelegt hatte. Über sein Leben mit Frau und Kind in der Wienerwaldgemeinde Purkersdorf ist so gut wie nichts bekannt. Schon als Innenminister hatte er mit Umstellungsproblemen zu kämpfen: Kickl war der Politiker gewesen, der stundenlang sein Mobiltelefon ausgeschaltet hatte, um sich seinem Privatleben und dem Sport zu widmen, nun musste er rund um die Uhr erreichbar sein. Heute nutzt er die sozialen Medien, um sein Sportlerleben zu teilen, Bergtouren, Radexpeditionen und Waldläufe werden fotografisch umfänglich dokumentiert. Auch als Norbert Hofer seinen Rücktritt bekannt gab, war Herbert Kickl auf dem Berg.

Viele fragen sich, wie sich Kickl als Innenminister in Coronazeiten verhalten hätte. Man wird es nie erfahren, aber man kann sich schwer vorstellen, dass er die Chance ausgelassen hätte, seinen Polizeiapparat als schärfste Waffe gegen die virale Bedrohung der Volksgesundheit zu positionieren. Herbert Kickl hat immer das getan, was notwendig war. Jetzt wird er eben Parteichef.