Ein Schlagwort geht um: Identitätspolitik. Was ist das? Laut Gabler Wirtschaftslexikon etwas, wozu man im Großen und Ganzen nur Ja sagen kann: „Die Identitätspolitik geht von der Identität von Einzelnen und Gruppen aus. Mit ihrer Hilfe wehren und befreien sich diskriminierte Gruppen, etwa Frauen, Homosexuelle, Vegetarier und Veganer, People of Color (PoC), Ureinwohner, Obdachlose und Sexarbeiter.“ Und wie sieht diese Politik im Einzelnen aus?

Die Literaturagentin von Amanda Gorman behauptete sinngemäß, dass ein „weißer Mann“ nicht in der Lage sei, die Atmosphäre des Gedichts, welches die junge schwarze Poetin bei der Inauguration des US-Präsidenten Joe Biden vortrug, angemessen zu übersetzen. Das ist eine reverse discrimination, die Umkehrung einer beschämenden Ungleichbehandlung schwarzer Autorinnen, wie sie in den USA und anderswo Tradition hat. Das Verhalten der Agentin stieß weithin auf Unverständnis, zumal der betroffene katalanische Übersetzer, Victor Obiols, zu den besten seines Landes zählt. Damit nicht genug: Eine „queere“ Übersetzerin aus den Niederlanden zog sich vorsichtshalber zurück – wegen eines Internetangriffs auf ihre „falsche“ Hautfarbe.

Heute hat die „Black Lives Matter“-Bewegung zu einer – je nachdem, wie man die Sache sieht – befreienden oder pöbelhaften Denkmalstürmerei geführt, die sogar gemäßigte Kommentatoren als „talibanesk“ verurteilen. Hier einige Beispiele: Am 4. Juli 2020, dem amerikanischen Nationalfeiertag (Independence Day), rissen Demonstranten in der Ostküstenstadt Baltimore eine Kolumbus-Statue vom Sockel und versenkten sie im Hafenbecken. Und es war nicht der erste und letzte Anschlag dieses Protestfurors, dem von seinen Kritikern der Name Cancel Culture verpasst wurde. Den Denkmalstürmern gilt Kolumbus als massenmörderischer Kolonialherr, er steht für den Genozid an der indigenen Bevölkerung.

Topple the Racists

Derweilen haben britische Aktivisten bei Antirassismus-Protesten in Bristol die Statue eines englischen Sklavenhändlers aus dem 17. Jahrhundert, Edward Colston, im Fluss versenkt. Weitere 60 Denkmäler wurden vorerst aufgelistet. Das Motto der geplanten Aktionen: Topple the Racists („Stürzt die Rassisten“), darunter einige der bekanntesten historischen Persönlichkeiten des Landes, zum Beispiel König Charles II., Oliver Cromwell, Horatio Nelson und Sir Francis Drake. Die Liste wird immer länger, ebenso die Dinge, die in den Fokus treten: Bücher, Lieder, Bräuche, Theaterstücke, selbst in der Bibel finden sich – kein Zweifel – mannigfach rassistische, frauenfeindliche und homophobe Stellen.

Die Antike kannte ein Verfahren, mit unliebsam gewordenen Berühmtheiten umzugehen. Alle Erinnerungen an eine solche Person sollten von Amts wegen getilgt werden: Damnatio memoriae. Aber die Sache war ein zweischneidiges Schwert. Nachdem alle Denkmäler zerstört und alle Inschriften getilgt worden waren, nachdem der Name des Verfemten aus allen Geschichtschroniken entfernt worden war, blieb jener „Nachruhm“, der durch die Damnatio, die Auslöschung des Andenkens, erst möglich wurde.

Was musste ein Mensch doch für eine geistige Macht, eine gewaltige Aura gehabt haben, damit sich die Mächtigen nicht anders zu helfen wussten, als ihn aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen! Und was erreichten sie damit? Die Aufrichtung einer übergroßen, mythisch anmutenden Gestalt, deren Heldentaten, Verbrechen inklusive, von Mund zu Mund im Flüsterton weitergereicht wurden. So schafft man historische Faszinosa, die aus ihrer obrigkeitlich erzwungenen Löschung emporsteigen, gewaltiger, glühender, höher als der sagenhafte Phönix aus der Asche.

Im Rahmen der sogenannten Entstalinisierung konnte das Gemälde von Wladimir Alexandrowitsch Serow, geschaffen 1947, betitelt „Lenin proklamiert die Sowjetmacht“, unmöglich so bleiben, wie es war. Denn es zeigte Stalin im Gefolge Lenins. Auf Verlangen Nikita Chruschtschows passte der Maler die Szenerie den neuen Richtlinien der Partei an, indem er, unter anderem, Stalin durch eine unverdächtige Person ersetzte. So bedurfte es keiner Zerstörung des Werks, auch keiner Verbannung in einen dunklen Keller, wo die Ungeheuer der Geschichte weggesperrt sind. Freilich, der wesentlichste Nebeneffekt bestand darin, dass die Geschichte des Bildes wichtiger wurde als das Bild selbst: Da, an dieser Stelle, hatte man Väterchen Stalin sehen können!

Ruf nach „Auslöschung“

Eine aktuelle Mythisierung, bedingt durch den Ruf nach „Auslöschung“, findet seit Jahren rund um Adolf Hitlers Geburtshaus im oberösterreichischen Ort Braunau am Inn statt. Dort hatten die alten und neuen Nazis eine Sightseeing-Okkasion; dort konnte man einander treffen, wissende Blicke austauschen: „Gebt Gas, ihr alten Germanen …!“ Vertreter der antifaschistischen Kulturszene forderten seit Langem eine Umgestaltung des Hauses, wenn nicht gar den Abriss, zwecks Unkenntlichmachung seiner Bedeutung – „Geburtshaus des Führers“. Nun soll das Haus saniert und dort, 2023, eine Polizeistation eingerichtet werden. Ob man damit der Hitler-Nostalgie in gewissen Kreisen wehren kann, darf bezweifelt werden. Eher mag schon in manchen Köpfen das Diktum des Staatsrechtlers Carl Schmitt, berüchtigt als Kronjurist Hitlers, zu rumoren beginnen: „Der Führer schützt das Recht!“, nicht das biedere Organ einer Polizeiwachstube, dem so ziemlich alles fehlt, was als „Aura des Bösen“ fasziniert und anlockt.

An historischer Aufklärung ist wahrlich kein Mangel. Es macht indessen einen wesentlichen Unterschied, ob man die Verbrechen des Westens anprangert oder ob man postuliert, die westliche Zivilisation sei intrinsisch böse, gemäß ihrem innersten Wesen eine Kultur der Unterdrückung. Womit die identitätspolitischen Hardliner allerdings nicht zu rechnen scheinen, ist die Wiederkehr – die Idealisierung und Revitalisierung – des Abgedrängten.

Denn durch identitätspolitische Reinigungsfeldzüge wird bei denen, die sich nun ihrerseits ducken und anpassen sollen, eine Wiederbesinnung auf die eigene verfemte Identität genährt. Im Fokus stehen die starrköpfigen weißen Männer und ihre angeblich herrschsüchtigen Gelüste. Gut möglich, dass auch sie ideologisch aufrüsten, ideenpolitisch im Sinne von Abendlandrettern …

Was also wäre zu hoffen? Dass die Exzesse der Vergangenheitsauslöschung einer differenziert-humanistischen, auf Aussöhnung und Wiedergutmachung gerichteten Sichtweise Platz machen. Ohne historische Verbrechen zu leugnen, bedürfte es einer gerechten Einschätzung westlicher Errungenschaften. Demokratie, Menschenrechte, Gleichheitsprinzip, Liberalität: Das sind – punktuell – Werte, die sich vor dem Hintergrund der immer gleichen menschlichen Grundbedürfnisse global rechtfertigen lassen – unbeschadet der Religion, des Geschlechts oder der Hautfarbe.