Die Sitzung am 20. Oktober dauerte ungleich länger als geplant. Seit Ausbruch der Pandemie schalten sich die Experten des sogenannten Covid-Prognosekonsortiums, darunter Peter Klimek, Niki Popper, Stefan Thurner, einmal pro Woche zusammen, um im Auftrag der Regierung Prognosen über den Verlauf der Pandemie, insbesondere über die Auswirkungen auf die Spitals- und Intensivkapazitäten, zu erstellen.

Vom Vorreiter zum Nachzügler

Am besagten 20. Oktober schrillten alle Alarmglocken. Zwar wurden an dem Tag nur 1524 Neuinfektionen gezählt, die führenden Corona-Modellrechner des Landes entdeckten in ihrem umfangreichen Datenmaterial eine furchteinflößende Dynamik, die Mitte November zum Kollaps der Spitäler und Intensivstationen geführt hätte. Einen Tag später wurde die Politik alarmiert. Bis zum sanften Lockdown am 3. November vergingen zwei Wochen, bis zum harten Lockdown fast ein Monat. Werden wir von Schlafwandlern regiert?

Hat die Regierung zu spät gehandelt?

Angesichts der 2000 Coronatoten, die allein im November in Österreich zu erwarten sind, darf die Frage erlaubt sein: Kam der 2. Lockdown zu spät? Hat die Politik, insbesondere die Bundesregierung, zu viel Zeit verstreichen lassen und leichtfertig, fahrlässig gehandelt? Hätte die Regierung früher die Notbremse gezogen, wären uns die Einschränkungen, die weit in den Jänner hineinreichen, erspart geblieben?

Beim ersten Lockdown ließ sich die Regierung noch als europaweiter Trendsetter feiern. Dass Österreich im November ein paar Tage die höchsten Infektionszahlen der Welt (umgelegt auf die Bevölkerung) aufwies, wurde verschämt verschwiegen. Dass der Kanzler in einer ORF-„Pressestunde“ Massentests ins Spiel brachte, schien ein perfektes Ablenkungsmanöver zu sein.

Kurz macht andere verantwortlich

Im Interview mit der Kleinen Zeitung beteuert Bundeskanzler Sebastian Kurz, er wollte schon früher einen harten Lockdown. Das scheiterte am Widerstand des Koalitionspartners, aber auch der Landeshauptleute (sechs der neun Landeschefs gehören der ÖVP an). Gegen eine Schließung der Schulen sträubte sich der Bildungsminister. Kurz drängte schon früh auf eine Schließung der Schulen, beim Handel stand Kurz allerdings auf der Bremse. Lange Zeit zog die Koalition nicht am selben Strang.

"Pandemie ist schon vorbei"

Dass die Politik nur sehr langsam auf den Alarmruf reagiert hat, ist evident. „Weil der Sommer so gut gelaufen ist, waren viele Menschen der Meinung, dass die Pandemie außer für Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen vorbei war“, erklärt Komplexitätsforscher Peter Klimek von der MedUni-Wien. Tatsächlich waren die Zahlen bis weit in den Oktober noch relativ niedrig. Herwig Ostermann, der Chef der Gesundheit Österreich, verweist darauf, dass die Politik bemüht ist, auch die anderen Akteure mit an Bord zu nehmen, was zeitaufwendig ist: „Es ist immer eine Frage des Bewusstseins. Wenn man neue Maßnahmen setzt, ist es wichtig, dass sie von der Bevölkerung verstanden und mitgetragen werden. Ich habe nichts davon, wenn ich sage: Ich sperre alles zu, aber keiner weiß, warum.“

Kein Zusammenbruch der Spitäler

Gesundheitsminister Rudolf Anschober, aber auch Komplexitätsforscher Niki Popper leugnen nicht, dass die Infektions- und Todeszahlen im November außer Kontrolle geraten sind, betonen allerdings, dass der zweite Lockdown - im engeren Sinn - nicht zu spät gekommen sei, weil die Versorgung in  Spitälern und Intensivstationen nicht zusammengebrochen sei und eine Triage verhindern werden konnte. Popper räumt allerdings ein, dass die Parameter vielleicht nicht ganz die richtigen waren.

Falsche Parameter?

"Das Thema ist sehr heikel", so Popper im Gespräch mit der Kleinen Zeitung, "aber es ist immer eine Frage der gesellschaftlichen und - letztendlich - politischen Zielvorgabe. Lautet die Vorgabe einzig, alles zu unternehmen, damit die Intensivstationen nicht zusammenbrechen, dann kam der zweite Lockdown nicht zu spät. Zumindest nach den oft genannten 1.000 Betten auf den Intensivstationen. Aber haben wir hier die richtigen Werte verwendet oder waren die zu hoch?" Und sei offen, ob "wir als Gemeinschaft  zwischen dem gesundheitlichen Leid der Covid-Patienten auf der einen Seite und der Frage der möglichen Unterversorgung anderer Erkrankungen, der gesellschaftlichen Vereinsamung, der wirtschaftlichen Krisen auf der anderen Seite richtig abwägen."