Waren die drastischen Maßnahmen, die die türkis-grüne Regierung in der Corona-Hochphase ergriffen hat, übertrieben? Wer hatte in den entscheidenden Tagen das Sagen? Die Virologen oder die Politik? Hat sich die Regierung über den Rat der Experten hinweggesetzt? Oder saßen die Scharfmacher im Expertenrat? Fragen über Fragen, die seit der schrittweisen Normalisierung nach Ostern die politische Debatte geprägt haben. Entzündet hat sich die Diskussion mitunter auch an der von Bundeskanzler Sebastian Kurz bei der Sitzung des Krisenstabs geäußerten Formulierung: „Die Menschen sollen Angst vor einer Ansteckung haben, Angst davor, dass Eltern, Großeltern sterben. Hingegen soll man der Bevölkerung die Angst vor Lebensmittelknappheit, Stromausfällen nehmen.“

Zunächst war Vertraulichkeit vereinbart

Erstmals liegen die gesammelten Protokolle der im Gesundheitsministerium angesiedelten Corona-Taskforce vor, die Kleine Zeitung hat darin Einblick genommen. Auf 100 Seiten werden die internen Debatten von etwa 20 hochrangigen Experten wie etwa Ages-Chef Franz Allerberger, dem Chef der Wiener Spitäler Michael Binder, den Virologen, Infektiologen, Epidemiologen Heinz Burgmann, Herwig Kollaritsch, Elisabeth Puchhammer, Ivo Steinmetz, Florian Thalhammer, Ärztekammerchef Thomas Szekeres, Rotkreuz-Kommandant Gerry Foitik zusammengefasst. Wortprotokolle wurden nicht erstellt. Ursprünglich war Vertraulichkeit vereinbart worden, nach öffentlicher Kritik hat man sich auf eine anonymisierte Veröffentlichung der elf Krisensitzungen (zwischen 28. Februar und 6. April) verständigt. Gesundheitsminister Rudi Anschober will auch die restlichen Protokolle publik machen.

Angst vor "Kernschmelze des Gesundheitssystem"

Bei Durchsicht der Unterlagen erscheint der „Angst-Sager“ in einem anderen Licht. Die Debatte in der denkwürdigen Sitzung drei Tage vor dem Lockdown (15. März) war von der großen Sorge vor italienischen Verhältnissen getragen. Einer der Experten warnte unverhohlen vor der „Kernschmelze des Gesundheitssystems“, ein anderer äußerte die Sorge, dass das heimische Gesundheitssystem „rasch in die Knie“ gehen könnte, sollten Intensivstationen oder Spitäler an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Die meisten Experten waren der Ansicht, dass in der Bevölkerung angesichts des Vormarsches des Virus „keine wirkliche Sorge zu verspüren“ sei, von einem „Erwachen der Bevölkerung“ keine Spur. Es bedürfe eines professionellen, ruhigen Kommunikationsflusses, um die Informationen „rasch in die hintersten Winkel der Republik“ zu bringen. Wie ernst die Lage zum damaligen Zeitpunkt war, zeigt auch die Überlegung, ehemalige Ärzte aus der Pension zurückzuholen. Die Regierung sollte SMS an alle Bürger verschicken. Thematisiert wurden auch Lieferengpässe in den Lagern der großen Lebensmittelkonzerne.

Triage auf der Intensivstation

Ungleich dramatischere Überlegungen wurden am 9. März angestellt. Angesichts der Berichte aus italienischen, französischen und spanischen Spitälern warf einer der Experten die heikle Frage der Triage in Intensivstationen auf, ob also im Ernstfall auch in Österreich ältere, schwer kranke Patienten nicht mehr an Beatmungsgeräte angehängt werden sollen, um Geräte für jüngere Corona-Patienten frei zu halten. „Eine derart schwierige Entscheidung sollte nicht zulasten des gerade diensthabenden Anästhesisten gehen“, so die implizierte Forderung nach klaren Richtlinien für den Tag X. In einer späteren Sitzung wurde das schwedische oder belgische Modell angerissen, wonach ältere, schwer kranke Patienten bei akuten Atemproblemen gar nicht mehr ins Spital eingeliefert und stattdessen im Pflege- oder Altersheim palliativ behandelt werden sollen. Da sich die Lage in den heimischen Intensivstationen glücklicherweise nie so dramatisch zugespitzt hat, wurde die ethisch-sensible Frage der Triage nicht mehr weiterverfolgt bzw. abschließend behandelt. Festgehalten wurde lediglich, Gradmesser solcher Entscheidungen sollten „nicht der Ressourcenmangel, sondern ausschließlich medizinische Gründe“ sein.

Anfragen wegen Ischgl

Wenig überraschend wurden in den insgesamt elf Krisensitzungen alle coronarelevanten Fragestellungen eingehend nach wissenschaftlichen Kriterien erörtert, ob bzw. wann Schulen, Unis, Geschäfte, Grenzen, Konzerthallen geschlossen werden sollen, welche Schutzvorkehrungen für die älteren Menschen, Spitäler, Alten- und Pflegeheime ergriffen werden sollen, wie es um die Ausstattung mit Schutzkleidung, Masken bestellt ist, welche Gruppen getestet werden sollen und vieles mehr. Anfang März wurden etwa Schulschließungen noch als „problematisch“ eingestuft. Auch wird festgehalten, dass der „Schutz älterer Menschen wichtiger als die Absage von Großveranstaltungen“ mit vielen jungen Menschen sei. Am 9. März findet sich beiläufig der Hinweis, dass die Regierung mehrfach „vom Ausland in der Sache Ischgl“ kontaktiert wurde, Details sind den Protokollen nicht zu entnehmen. Immer wieder werden die wirtschaftlichen oder sozialen Auswirkungen drakonischer Maßnahmen besprochen, etwa die Frage der Vereinsamung älterer Menschen oder die Auswirkung eines kollektiv verordneten Homeoffice von Eltern und Schülern auf das Wohlbefinden von Familien.

"Wir sollten mehr Emotionen ansprechen"

In der Anfangsphase wird noch davor gewarnt, „ganz Österreich in eine eskalierende Lage“ zu versetzen. Das änderte sich aber sehr rasch mit dem Vorrücken des Virus. So sollte, so der Appell der Experten an die Regierung, die „Bevölkerung aufgerufen werden, persönliche Kontakte zu reduzieren“. Und: „Wir sollten mehr Emotionen ansprechen und Bewusstsein schaffen, wie wichtig es ist, Angehörige zu schützen.“ Der Krisenstab befasste sich tatsächlich auch mit allen Nebenaspekten der Coronakrise, etwa mit der Frage, sollte ein Hundebesitzer unter Quarantäne gestellt werden: „Wer geht mit dem Hund Gassi?