War Bruno Kreisky ein Ausnahmepolitiker? Oder trübt die Verklärung den klaren Blick?

ALFRED REITER: Natürlich spielt die Verklärung hinein, aber es gibt auch objektive Tatbestände. Kein Parteichef hat je fünf Wahlen gewonnen, drei davon mit absoluter Mehrheit. Nur zwei Kanzler haben die Absolute gemacht: Kreisky und sein Vorgänger Josef Klaus (ÖVP). Das war damals leichter, denn SPÖ und ÖVP hatten gemeinsam 95 Prozent. Aus meiner Sicht gab es seit 1945 nur fünf Kanzler, die das Amt richtig angestrebt haben: Klaus, Kreisky, Schüssel, Kern und Kurz.

War der Wahlsieg vor genau 50 Jahren eine Überraschung?
Es hat sich abgezeichnet, weil Kreisky den Wahlkampf durch seine Präsenz in den Medien stark dominiert hat. Das Fernsehen kam ihm sehr entgegen.

War Kreisky der erste Medien-Kanzler?
Mit Sicherheit. Josef Klaus (der regierende ÖVP-Kanzler) war ein höchst korrekter Mann, aber er hatte wie viele andere Politiker Angst vor den Medien. Klaus hat nicht frei mit Medien kommunizieren können. Alles war vorbereitet, alles wurde abgelesen. Kreisky war maßgeschneidert für Interviews in der „Zeit im Bild“. Selbst komplexe Tatbestände konnte er in einfachen Worten so langsam formulieren, dass jeder automatisch zugehört hat. Man hat gewitzelt, Kreisky finde keine Sekretärin, weil keine so langsam schreiben könne, wie er redet.

Die Journalisten hat er damals umgarnt, und sie haben ihm aus der Hand gefressen.
Eine Grundsituation, die sich ununterbrochen wiederholt: Ein junger Journalist, sagen wir vom „Waidhofener Boten“, ruft am Nachmittag an, will mit Kreisky sprechen und wird zu seiner Überraschung durchgestellt. Er erzählt dem Kanzler, dass er gerade an seinem ersten Leitartikel feilt, aber noch etwas braucht, weil er seinen Chefredakteur beeindrucken will. Kreisky lässt sich den Leitartikel vorlesen und beginnt, am Text herumzuredigieren. Das hat oft 20 Minuten und länger gedauert, während im Vorzimmer hochrangige Leute auf den Termin gewartet haben. Und wenn das Telefonat vorbei war, hat er mich gefragt: War das Waidhofen an der Ybbs oder an der Thaya? Man kann sich das heute nicht vorstellen. Kreisky hatte thematisch ununterbrochen zwölf Bälle in der Luft. Das war ein permanenter Jonglier-Akt. Ob aus diesem Thema etwas geworden ist, war sekundär. Entscheidend war, dass es die Medien beherrscht hat. Kreisky war medial seine eigene Opposition.

Wie haben Sie ihn beruflich erlebt?
Als ich Kabinettschef geworden bin, habe ich mir gedacht, der Job des Bundeskanzlers sei zu vergleichen mit dem eines Vorstandsvorsitzenden der Republik. Ich habe mich geirrt. Kreiskys Amtsverständnis war ein völlig anderes. Für ihn war es keine Management-Aufgabe, es war eine Art künstlerische Tätigkeit mit allen Attributen einer solchen. Um ihn herum gab es meist ein unglaubliches Chaos, das kann man sich nicht vorstellen. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er das gebraucht hat. Wenn es zu übersichtlich geworden ist, hat er sich unwohl gefühlt. Es brauchte ein schöpferisches Chaos.

Wie hat er Politik gemacht?
Alles, was ihn ausgemacht hat, war Kommunikation: reden, zuhören. Zugehört hat er vor allem den sogenannten kleinen Leuten. Bei den „Großkopferten“ im Ministerrat war er der große Welterklärer. Er hat ununterbrochen die Welt erklärt, im Ministerrat hat es praktisch keine Wortmeldungen mehr gegeben. Das waren ewige Monologe. Er hatte ein unglaubliches Gespür für die Anliegen der Menschen. Politikberater wären für ihn undenkbar gewesen.

Meinungsumfragen waren ihm hingegen sehr wichtig. Hatte er wirklich keine Politikberater?
Kreisky hatte sieben Millionen Politikberater: die Bevölkerung. In den Jahren, in denen ich dort gesessen bin, trudelten täglich im Durchschnitt 300 Briefe ein, das waren im Monat 10.000 Schreiben. Die Leute haben alle nur denkbaren Anliegen vorgebracht. In den meisten Fällen konnten wir ohnehin nicht helfen, weil die Anliegen contra legem waren. Ich habe eine Systematik hineingebracht und veranlasst, dass die Leute innerhalb von 72 Stunden zunächst eine Empfangsbestätigung erhalten haben. Die Leute waren völlig verblüfft darüber, denn das hat es damals nicht gegeben.

Hat er sich als Volkskanzler inszeniert?
Na ja, es war schon mehr. Man konnte ihn ja direkt auch zu Hause anrufen, seine Nummer stand im Telefonbuch: - 37 12 36. Da kam es oft vor, dass er sagte: Ich hatte heute in der Früh einen interessanten Anruf einer Bäuerin aus dem Ötztal, vielleicht war sie auch aus dem Zillertal. Ihr Hof ist auf 1350 Metern, eine Frau Mayerhuber oder so, die darüber geklagt hat, wie schwierig es für ihre Kinder ist, in der Früh in die Schule zu kommen. Wir mussten dann mühsam die Bäuerin ausfindig machen. Auf Basis solcher Gespräche sind dann Vorhaben wie die Schülerfreifahrt oder die Gratis-Schulbücher entstanden. Wenn er heute Kanzler wäre, er würde dauernd am Handy hängen.

Was waren seine Schattenseiten? War er nicht an der Krise der Verstaatlichen mit schuld?
Er hat von Wirtschaft wenig verstanden. Er hat es kompensiert, indem er dauernd im Kontakt mit Unternehmern war, die er am Abend beim Philharmonischen Konzert getroffen hat. Durch die vielen Kontakte zur Bevölkerung hatte er auch gute Vorstellungen von der Lebenswirklichkeit der kleinen Leute. Er hat ja alles aufgesaugt, hatte ein unglaubliches Gefühl, was im Land passiert. Die Lage der Verstaatlichten war schwierig, spätestens seit der Ölkrise. Kreisky stand unter dem Einfluss der Betriebsobleute. Es war ein Fehler, zu wenig rigide vorgegangen zu sein, er konnte sich nicht vorstellen, Tausende auf die Straße zu setzen. Später musste ÖIAG-Chef Sekyra den Stahlarbeitern sagen: Verstehen Sie doch, wir sind pleite!

Was ist von Kreisky geblieben?
Er hat die SPÖ, die damals eine Klassenpartei im marxistischen Sinn war, geöffnet. Er war im Dialog mit Unternehmern, Landwirten, Künstlern, auch mit der Kirche trotz der Differenzen bei der Fristenlösung. Es waren auch die Katholiken, die ihm zur Mehrheit verholfen hatten. Es war ihm ein großes Anliegen, Österreich gegenüber geistigen Strömungen zu öffnen. Er hat sich immer sehr international gesehen.

Könnte Kreisky heute Kanzler?
Die Situation war damals völlig anders, es gab nur zwei Großparteien, alles war übersichtlicher. Kreisky war ein unglaublich gescheiter Mensch, der sich für alles interessiert hat. Er war ein authentischer Politiker. Er konnte wahnsinnig schimpfen mit seinen Ministern, denen er vorgeworfen hat, sich als Arbeiter zu inszenieren. Wenn Kreisky zu einer Arbeiterversammlung gegangen ist, hat er seinen schönsten Mantel angezogen, mit Innenpelz.