Der 1. März 1970 war ein Schicksalstag für Österreich. Die SPÖ wurde bei den Nationalratswahlen zum ersten Mal seit 1945 zur stärksten Partei. Bruno Kreisky griff entschlossen nach der Macht. Zunächst das Wagnis einer Minderheitsregierung. Bald darauf der Absprung in Neuwahlen. Es folgte die Ära, in der Kreisky als „Sonnenkönig“ mit absoluter Mehrheit regierte. 13 Jahre lang war er Bundeskanzler – für heutige Maßstäbe eine kaum vorstellbare Periode.

Eigentlich ging die Nachkriegszeit schon vier Jahre früher zu Ende. Am 6. März 1966 erhielt die Große Koalition den Todesstoß. Zwei Jahrzehnte hatte das schwarz-rote Bündnis, das von einer staatspolitischen Notwendigkeit des Anfangs zu einer sich gegenseitig belauernden Zwangsehe geworden war, Österreich mit dem Beistand der Sozialpartner fest im Griff.

Die ÖVP-Alleinregierung von Josef Klaus

Josef Klaus, vormals Salzburger Landeshauptmann, der als „Reformer“ die Führung der ÖVP antrat, ohne freilich die versteinerten Strukturen der Kanzlerpartei aufzubrechen, setzte im Wahlkampf auf diese Karte. Das von den unabhängigen Zeitungen getragene Volksbegehren, das den Rundfunk aus den Fesseln des Proporzes befreien sollte, schürte den Überdruss an der Dauerkoalition.

Der Umsturz kam überraschend. Die ÖVP legte zwar nur drei Prozent zu, doch die 48,4 Prozent genügten für 85 der 153 Mandate, sodass Klaus die erste Alleinregierung bilden konnte. Zu ihrem Untergang hatte die SPÖ selbst beigetragen: Der aus der Partei ausgeschlossene Ex-Innenminister und ehemalige Gewerkschaftspräsident Franz Olah schaffte mit seiner Abspaltung knapp den Einzug ins Parlament. Außerdem hatte Parteiobmann Bruno Pittermann die Anbiederung der an sich bedeutungslos gewordenen Kommunisten nicht zurückgewiesen, was die „rote Katze“ als Wählerschreck wiederbelebte.

Der Tag der Abrechnung kam rasch: Anfang 1967 musste Pittermann weichen, Kreisky setzte sich auf einem unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehaltenen Parteitag mit 70 Prozent der Delegiertenstimmen gegen den Gewerkschafter und Innenminister Hans Czettel durch.

Karriere nach dem schwedischen Exil

Seine Karriere begann Kreisky nach der Rückkehr aus dem schwedischen Exil im Vorzimmer des Bundespräsidenten Theodor Körner, war dann als Staatssekretär bei den Staatsvertragsverhandlungen in Moskau dabei, ehe er 1959 die ersehnte Spitze im Außenministerium erklomm.

Der Weltmann und Großbürger jüdischer Abstammung war der Kandidat der Bundesländer. Der in einem feinen Wiener Bezirk aufgewachsene Kreisky mischte als Student in der sozialistischen Jugend mit, wurde vom faschistischen Regime inhaftiert, fasste in den Wiener Parteikadern aber nie Fuß. Er holte sich sein Nationalratsmandat in der niederösterreichischen Provinz. Auf dem Kampf-Parteitag stellten sich die alte Wiener Garde und auch ÖGB-Präsident Anton Benya gegen ihn. Kreisky wurde von Genossen fernab, darunter den Steirern und Kärntnern, unterstützt.

Den neuen Parteichef zog es sofort hinaus. Er überließ Pittermann das Geschäft der Opposition im Parlament. Kreisky tourte durch Städte und Dörfer, besuchte Arbeiter in den Betrieben, sprach mit Bauern und Unternehmern. Tuchfühlung mit dem „Klassenfeind“. Er suchte das Gespräch mit Vertretern der katholischen Kirche, vom Kardinal abwärts. Es galt, alte Gräben zuzuschütten.

Rückenwind durch den Wahlsieg John F. Kennedys

Rückenwind kam von weit weg. In Amerika setzte mit der Wahl von John F. Kennedy die Jugendrevolte ein. Sie breitete sich von den Universitäten in die Metropolen aus, veränderte Kleidung und Lebensstil, entzündete sich am Vietnam-Krieg, speiste die Friedensbewegung. Die Bewegung schwappte als Springflut auf Paris über, mobilisierte die Studenten in Berlin und brachte das Regime in Prag ins Wanken.

Auch die Regierung Klaus versuchte, den Schwung aufzufangen. Neue Gymnasien wurden gebaut, Lehrpläne entrümpelt, doch zerstritt man sich wegen eines zusätzlichen Schuljahres. Der Spagat zwischen Modernisierung und Bewahren wurde zur Zerreißprobe. In der Gesellschaftspolitik, etwa im Strafrecht, gab es statt eines Schritts nach vorn einen zurück. Eine Notbremse musste die ÖVP wegen des weltweiten Konjunktureinbruchs auch in der Budgetpolitik ziehen. Der neue Finanzminister Stephan Koren dämmte das Defizit durch Kürzungen und Zusatzsteuern auf Einkommen, Autos und Alkohol ein. Die Konsolidierung gelang, den Profit streifte später ein anderer ein.

Kreisky räumte mittlerweile marxistische Relikte wie Verstaatlichung und Planwirtschaft in die ideologische Rumpelkammer. Legendäre 1400 Experten erstellten unter dem Arbeiterkammer-Ökonomen Ernst Eugen Veselsky ein Reformprogramm, der blutjunge Steuerberater Hannes Androsch steuerte einen Finanzierungsplan bei, der auf Umverteilung durch „Reichensteuern“ verzichtete. Flankenschutz leistete die Gewerkschaft mit dem Volksbegehren für die 40-Stunden-Woche. Und die Parteizentrale warb mit dem Schlachtruf „Sechs Monate sind genug“ für die Wehrdienstverkürzung.

Das einmalige Experiment Minderheitsregierung

Man war gerüstet. Bei den Wahlen am 1. März 1970 wurde die SPÖ erstmals die stärkste Partei. Doch es war nur die relative Mehrheit. 48,4 Prozent bedeuteten 81 der 165 Sitze im Nationalrat. Die Sache war jedoch entschieden: Der geschlagene Bundeskanzler Klaus, der mit der FPÖ rechnerisch eine Kleine Koalition hätte bilden können, nahm den Hut. Noch in der Wahlnacht rief Kreisky Friedrich Peter an. Der FPÖ-Chef dürfte darauf gewartet haben.

Kreisky wagte das für Österreich auch jetzt noch einmalige Experiment der Minderheitsregierung. Ein großes Risiko war es nicht, weil er sich bei Peter durch das Versprechen einer für die FPÖ günstigen Wahlrechtsänderung (183 Mandate im Nationalrat) die parlamentarische Unterstützung gesichert hatte. Auch sonst zeigte Kreisky keine Berührungsängste: In seinem Kabinett saßen SPÖ-Minister mit hochrangiger Nazi-Vergangenheit.

Der neue Bundeskanzler, 59 Jahre alt, stieg mit Elan ein. Kreisky wurde nicht müde, für die „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ als sein zentrales Ziel zu werben. Bald war auch der Slogan geboren, der sich bei der ersten passenden Gelegenheit bestätigen sollte: „Lasst Kreisky und sein Team arbeiten!“ Im Oktober 1971 erreichte die SPÖ bei den vorzeitigen Wahlen mit 50 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen und 93 von 183 Mandaten. Die Zeit der roten Alleinregierung begann.

Die Wohltaten der Ära Kreisky

Sie brachte Wohltaten: Schülerfreifahrten, Gratis-Schulbücher, Familienbeihilfen samt Mutter-Kind-Pass, Streichung der Studiengebühren, Erhöhung der Pensionen. Der Staat zog die Spendierhosen an. Androsch sorgte als Finanzminister für volle Kassen. Die Konjunktur lief wieder prächtig und wenn etwas fehlte, machte man Schulden.

Kreisky beherrschte die Szene. Er pflegte schon immer das Gespräch mit Journalisten, denen man in der SPÖ meist misstraute. Als Regierungschef führte er das Pressefoyer nach dem Ministerrat ein. Seine langsame Sprechweise („Ich bin der Meinung“) wurde zum Markenzeichen. Das Fernsehen, das sein Vorgänger scheute, schien für Kreisky erfunden. Es war eine Ironie der Geschichte, dass Klaus die von der SPÖ bekämpfte ORF-Reform umsetzte, Kreisky davon profitierte, um später den unbotmäßigen, weil unabhängigen, Generalintendanten Gerd Bacher hinauszuwerfen.

Reformen fast überall: An den Universitäten wurde die Drittelparität installiert, Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg brach den Widerstand der Professoren. Justizminister Christian Broda entschlackte das Strafgesetz von antiquierten Paragraphen. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch wollte Kreisky vorsichtig vorgehen. Schließlich kam es doch zur „Fristenlösung“, die katholische Verbände vergeblich mit einem Volksbegehren bekämpften.

Der Ölschock und andere Schwierigkeiten

Nicht alles lief rund: Im Herbst 1973 wurde von den Arabern der Ölpreis schockartig erhöht, die Weltkonjunktur brach ein. Handelsminister Josef Staribacher musste als „Happy Peppi“ einen autofreien Tag verfügen, der Bundeskanzler empfahl Nassrasieren als Energiesparen. Die Malaise blieb beim Finanzminister hängen: Androsch, der die Umsatzsteuer auf die künftig für den Fiskus lukrativere Mehrwertsteuer umgestellt hatte, musste neue Schulden anhäufen. Das Budgetdefizit explodierte auf 4 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Der Popularität des Bundeskanzlers schadete das nicht. Kreisky narkotisierte sein Publikum mit der Formulierung, dass „mir ein paar Milliarden Schilling Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als ein paar Hunderttausend Arbeitslose“. Dass es ein paar Jahre später zu beidem kommen sollte, ahnte damals niemand. 1975 steigerte die SPÖ ihre Mehrheit auf 51 Prozent. Hinter der Fassade gab es allerdings erste Risse. Nach dem Tod von Franz Jonas rieten Androsch und der Wiener Bürgermeister Leopold Gratz dem Kanzler zur Kandidatur als Bundespräsident, was den Argwohn Kreiskys weckte, die zwei „Kronprinzen“ wollten „den Alten“ wegloben.

Differenzen zwischen Androsch und Kreisky

Auch in der Sache häuften sich Differenzen. Während Kreisky die Aufwertung des Schillings im Gefolge der Deutschen Mark nicht mehr mitmachen wollte, weil dies die Exportindustrie schwäche, verteidigte Androsch die Bindung an die DM. Rückendeckung erhielt er bei seiner Hartwährungspolitik (die Österreichs Beitritt zur EU erleichtern sollte) von ÖGB-Chef Benya und vom Nationalbankpräsidenten Koren, zuvor Klubobmann der ÖVP.

Bei Turbulenzen zu Hause wechselte Kreisky in die weite Welt. Mit Deutschlands Willy Brandt und Schwedens Olof Palme bildete er ein umtriebiges Trio der Sozialistischen Internationale. Die Neutralität sollte bei den Entspannungsversuchen im Kalten Krieg und vor allem im Nahen Osten gefragt sein. Palästinenserführer Jassir Arafat war Stammgast, die UNO verlegte einen Sitz, Abrüstungskonferenzen tagten, Amerikas Jimmy Carter und Russlands Leonid Breschnew trafen sich in Wien. Österreich war wieder wer.

Das Ende von Zwentendorf

Vom Ausland schwappte auch die Bewegung gegen die Atomkraft über. Zwentendorf stand vor der Inbetriebnahme. Kreisky wollte das strahlende Problem in die Hände des Volkes legen. Er persönlich stimmte zwar mit Ja, doch die Österreicher sagten mit 50,5 Prozent knapp Nein zum Atomstrom. Um die Volksabstimmung nicht als Niederlage erscheinen zu lassen, flüchtete Kreisky in vorzeitige Neuwahlen, die im Mai 1979 überraschend mit dem Höchststand von 51 Prozent und 95 Mandaten die Absolute der SPÖ zementierten.

Selbst Beton bröckelt. Der sich dem 70er nähernde Kreisky wirkte zunehmend müde, sein Charisma hatte sich erschöpft, zur Zuckerkrankheit kam ein Nierenleiden. Auch die Umwelt wurde unwirtlicher. Die Wirtschaft schwächelte, Firmen schlitterten in die Pleite, die Verstaatlichte konnte nur durch Finanzspritzen aus dem Steuertopf überleben. Der viel gerühmte „Austro-Keynesianismus“ war an seinen Grenzen angelangt. Mangels Masse war das „Deficit Spending“ nicht unbeschränkt möglich.

Das Verhältnis zu Androsch wurde immer schlechter. Die Unvereinbarkeit von Finanzminister und Steuerkanzlei war von Anfang an bekannt, erst eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung bot die Handhabe, den ungeliebten Vizekanzler zu entfernen und Androsch auf den Posten des Generaldirektors der Creditanstalt zu entsorgen.

AKH-Skandal und die Sparzinsensteuer

Auch andere, bisher unter der Decke gehaltene Skandale wie jener um das Wiener Allgemeine Krankenhaus (AKH) erregten die Öffentlichkeit. Der grantelnde „Sonnenkönig“ verkündete ein „Zehn-Punkte-Programm“ gegen die Korruption. Es blieb Papier. Fast wie die auf der Ferieninsel Mallorca ersonnene Sparzinsensteuer, die der als Erfüllungsgehilfe ins Finanzministerium geholte Tiroler Herbert Salcher exekutieren sollte. Das Schicksal in der Gestalt des Wählers machte dem Treiben ein Ende: Im April 1983 verlor die SPÖ die absolute Mehrheit. 47,7 Prozent reichten zwar zur relativen Mehrheit, doch der erschöpfte Kreisky wollte sich mit 73 eine Kleine Koalition nicht antun.

Bruno Kreisky, der 1990 verstarb, erging es wie anderen Großen in der Politik: Sie prägten eine Ära und veränderten ein Land, verpassten aber den rechtzeitigen Abgang. Von 50 Prozent Zustimmung, die er als Bundeskanzler erhielt, kann die SPÖ heute freilich nur noch träumen.