Herr Rektor, was geht da derzeit an den Unis vor sich, wenn Veranstaltungen wie mit dem Historiker Lothar Höbelt oder Alice Schwarzer gestört werden? Geht es da um Kulturkampf, um Wehleidigkeit, um Auswüchse von Ausdrucksformen der sozialen Netze? Oder ist das üblich?

OLIVER VITOUCH: Nein, das ist nicht üblich. In der Form ist das für Kontinentaleuropa neu. Es gibt verschiedene Aspekte. Es geht schon um kulturelle Hegemonie. Es ist auch ein Unterschied, ob das von Uniangehörigen kommt oder von Leuten von auswärts, wie ein Vorfall an der Uni Klagenfurt, als Identitäre von auswärts den Hörsaal stürmten.

Und die Proteste jetzt in Wien?

Protestbewegungen bis hin zu Hörsaalbesetzungen gab es immer, früher sogar intensiver. Was mir allerdings eine neue Form zu sein scheint, ist das Berufen auf die Befindlichkeit. Äußerungen seien nicht zumutbar oder verletzend oder ein Übergriff oder eine Zumutung. Es geht sehr stark ins Emotionale.

Worin liegt die neue Qualität?

Das Problem ist, dass diese emotionale Betroffenheit, wo es heißt, dass man „Safe Spaces“ braucht, in die man sich zurückziehen kann, und die ganze Universität ein diskriminierungsfreier Raum sein müsse, dass man das sehr exzessiv interpretieren kann. Das geht sehr weit ins Subjektive, daher kann ich diesen Einwand immer vorbringen. Da steht nicht mehr Argument gegen Argument, sondern die Verletzlichkeit im Vordergrund.

Aber Unis sind dazu da, um Auseinandersetzungen zu führen.

Ich orte hier eine Unstimmigkeit. Man beklagt, die Studierenden seien desinteressiert. Aber wenn dann ansatzweise Protest passiert, heißt es: Wo kommen wir da hin? Der feine Unterschied ist, ob man Argumente austauscht oder versucht, Dinge zu verhindern. Das hat mit der Erweiterung von Political Correctness zu tun, man will Diskursregeln aufstellen, die nicht zu erfüllen sind. Die Forderung nach einem diskriminationsfreien Diskurs etwa halte ich für fiktional. Zum Fall Schwarzer: Die Auseinandersetzung um den richtigen Feminismus ist so alt wie der Feminismus selbst. Neu ist die Forderung, Schwarzer dürfe nicht auftreten. Das führt zum Ende des Diskurses.

Heute sind schon Inhalte etwa der Literatur so verstörend, dass man sie gar nicht erst anhören darf. Führt sich da eine Universität nicht ad absurdum?

Wir können heute jederzeit Gewalt oder Pornografie streamen. Andererseits gilt Shakespeare manchen als unzumutbar wegen der gewalttätigen Inhalte. Aber die Uni ist der Ort, wo man sich mit kulturellen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Phänomenen auseinandersetzen sollte.

Nach welchen Regeln gehen Sie als Rektor konkret vor?

Ich halte es wie die Uni Chicago. Sie bekennt sich zu Diversität, gutem und respektvollem Benehmen, aber richtet keine „Safe Spaces“ ein, unterstützt keine „Trigger Warnings“ und wird keine kontroversen Vorträge absagen.

Wie schlimm ist es bei uns?

Wir sind noch eine Insel der Seligen, aber es kommen Entwicklungen aus den USA auch zu uns. Wir hüten hier in Klagenfurt den Nachlass von Karl Popper, der vom Toleranzparadoxon spricht: Die an sich wünschenswerte maximale Toleranz kann man nicht auf die Intoleranten ausdehnen, weil sich sonst die Toleranz selbst abschafft. Eine Uni muss daher eher offener als enger sein. Aber sie muss auch illiberalen, intoleranten Entwicklungen entgegentreten. Und es gibt gewisse geschichtliche Belastungen gerade auch an den Unis, sodass man hier auch besonders sensibel sein muss.