Frau Minister, für Tausende Kinder beginnt morgen der erste Schultag. Erinnern Sie sich noch, welche Gefühle Sie an Ihrem ersten Schultag hatten?
IRIS RAUSKALA: Das ist zwar schon einige Zeit her, aber ich erinnere mich, dass es ein Tag gewesen ist, der mit großer Aufregung verbunden war. Ich war jedenfalls völlig gespannt darauf, was mich erwarten wird, und hatte das Gefühl, dass jetzt der Ernst des Lebens beginnt.

Der Ernst des Lebens?
Ja, dass ich jetzt auch als Kind ernst genommen werde und eine Aufgabe habe, die ernst zu nehmen ist. Ich war immer eine gewissenhafte Schülerin.

Sie hatten nie Angst vor Lehrern, Schularbeiten?
Nein, ich habe mir Gott sei Dank recht leichtgetan, weil mich alles interessiert hat. Als Legasthenikerin hatte ich zwar Schwierigkeiten in Deutsch, aber ich habe einen Legasthenie-Kurs besucht und weiß daher, wie wichtig solche Angebote in Schulen sind. Ich habe eigentlich meine ganze Schullaufbahn so wahrgenommen, dass ich unterstützt wurde in jenen Bereichen, in denen ich nicht so stark war, und gleichzeitig habe ich ein großes Engagement von Pädagoginnen und Pädagogen erfahren, die weit mehr vermittelt haben als Standard.

Dann hatten Sie die Idealschule, die wir allen Kindern wünschen?
Ich weiß nicht, ob es ideal war. Da spielt auch das Elternhaus eine Rolle. Wenn man einen Förderbedarf hat, wie ich einen hatte, muss das nicht gleich mit einem Trauma einhergehen.

Zum Trauma kann für manche Kinder das Sitzenbleiben werden, das es heuer erstmals bereits wieder ab der zweiten Klasse Volksschule geben wird. Kann das bei Achtjährigen je sinnvoll sein? Gerade Kinder in diesem Alter machen oft in einem Jahr enorme Entwicklungssprünge.
Das mag schon sein, aber aus der Perspektive des Erziehungswesens habe ich dafür zu sorgen, dass Mindeststandards erreicht werden. Wer sie nicht erreicht, wird mit Förderangeboten unterstützt. Sitzenbleiben ist die letzte Maßnahme, die ergriffen wird. Wenn ein Kind die Standards nicht erreicht, ist das Wiederholen einer Klasse besser, als dass es die Defizite immer weiter mitträgt.

Sie hatten Lehrer, die auf Ihre Stärken und Schwächen eingegangen sind. Wie weit entfernt sind wir denn heute nach Ihrer Einschätzung vom Ziel, dass jedes Kind gleiche Chancen bekommt?
Mit diesem Schuljahr sind wir diesem Ziel ein Stück nähergekommen. Wir haben den Förderunterricht verpflichtend eingeführt, es wird verbindliche Gespräche mit den Eltern geben. Wir müssen den Eltern vermitteln, dass diese Fördermaßnahmen nicht aus Jux und Tollerei angeboten werden, sondern damit wir bis zu einem bestimmten Grad Chancengerechtigkeit herbeiführen können. Wir können aber sicher noch einen Zacken zulegen bei Kindern, die begabt sind wie auch bei jenen, die Schwächen haben.

Um einen Zacken zuzulegen, bräuchten Sie aber mehr Mittel.
Natürlich ist die Ressourcenfrage ein Thema, ein anderes ist aber, wie didaktisch-pädagogisch unterrichtet wird. Das ist nicht nur eine Frage der Ressourcen.

Es bleibt die Grundsatzfrage, was Schule leisten kann, wenn das Elternhaus ausfällt. Gesellschaftliche Verhältnisse wird sie kaum je aushebeln können.
Nein, aber wir können dafür sorgen, dass ein Kind so früh wie möglich in die erste Schulform eintritt. Das ist der Kindergarten, der als erste pädagogische Einrichtung zu verstehen ist, in der die Kinder nicht nur bespielt und bespaßt werden. Und es müssten Familien in sozialen Themen unterstützt werden. Das gelingt gut in Finnland. Wir stellen fest, dass unsere Pädagogen zwar sehr motiviert sind, aber das Gefühl haben, zunehmend bei Problemen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht genügend wirken zu können. Es werden zu viele Themenstellungen in den Unterricht hineingetragen, die dort vordergründig nichts verloren haben. Deshalb ist es auch so wichtig, beim sozialen Unterstützungspersonal einen Schritt weiterzugehen.

PISA-Koordinator Andreas Schleicher kritisiert, dass die Diskrepanz zwischen dem, was die Gesellschaft brauche und was in der Schule passiere, immer größer werde. Eine überzogene Kritik?
Es ist vor allem wichtig, dass die Digitalisierung sich mit allen technischen und didaktischen Anwendungsmöglichkeiten in den Lehrplänen wiederfindet. Insofern appelliere ich an die nächste Regierung, das Digitalisierungspaket mit absoluter Priorität umzusetzen.

Digitalisierung ist kein Selbstläufer. Wird es eine Fortbildungsverpflichtung für Lehrer geben?
Ja, das ist Bestandteil des Masterplans Digitalisierung. Ebenso Bestandteil ist die Ausstattung der Schulen mit hochleistungsfähigem Internet.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann fürchtet wiederum, dass durch die Digitalisierung die klassische Bildung verloren geht.
Das ist der Spagat, der geschafft werden muss. Wir müssen uns mehr denn je überlegen, was unsere Werte sind, die wir unbedingt vermitteln wollen. Die Digitalisierung per se ist weder gut noch schlecht. Sie kann aber beispielsweise dabei helfen, auf unterschiedliche Lernniveaus von Kindern besser einzugehen. Wir müssen die Technik nützen, damit sie uns bei unseren Herausforderungen hilft. Da könnte man beide Welten, jene von Liessmann und jene von Schleicher, gut verbinden.

Sie haben gestern einen Brief von Schülern bekommen, die empört sind, weil Sie Sanktionen bei Fernbleiben von der Schule angekündigt haben, wenn Schüler an „Fridays for Future“-Demos teilnehmen. Was werden Sie antworten?
Das Anliegen der Schüler ist absolut gerechtfertigt. Es gibt aber eine geltende Schulpflicht und ich kann als Ministerin Schülern nicht einfach freigeben. Die Strafen bekommen die Schüler auch nicht, weil sie demonstrieren. Wir kommen einfach in die Situation, auf gültige Gesetze hinweisen zu müssen.

Was sagen Sie jenen Lehrern, von denen Sie aufgefordert wurden, die Schüler aktiv zu unterstützen?
Ein Lehrer kann auch nicht einfach gegen geltendes Gesetz verstoßen. Er kann es tun, aber dann hat er die Konsequenzen zu tragen. Wir unterstützen sämtliche Maßnahmen, die im Unterricht zum Thema Klimaschutz ergriffen werden. Was gibt es Wichtigeres, als der Bildungsverpflichtung gerade bei diesem Thema in der Schule nachzukommen? Der Klimakrise ist nicht geholfen, wenn die Schüler dem Unterricht fernbleiben.

Ein schwieriges Thema ist auch das Kopftuchverbot in Volksschulen. Wie wünschen Sie sich die Umsetzung? Zuerst ein Gespräch, dann 100 Euro Geldstrafe?
Zuerst ist das Gespräch mit den Eltern zu führen und zu vermitteln, dass wir nicht wollen, dass kleine Mädchen in Geschlechterstereotpye hineingedrängt werden.

Die ÖVP fordert ein Verbot bis 14 Jahre. Stimmen Sie zu?
Damit wird sich die nächste Regierung auseinandersetzen müssen. Das ist eine Frage, die zuerst einen breiten gesellschaftlichen Diskurs benötigt.

Im Leitfaden Ihres Ministeriums an die Schulen steht, dass ein Kopftuch verboten ist, wenn „das Haupthaar nicht mehr zu sehen ist“, aber ein Kopfverband nicht unter das Verbot fällt. Da freuen sich bereits Kabarettisten.
Ich führe solche Diskussionen sehr ungern. In dieser zugespitzten Diskussion ist es aber wichtig darzulegen, was der Gesetzgeber gemeint hat und wie man es ahnden kann, ohne dass es in eine Straforgie ausartet. Da geht es um die Gleichstellung von Mädchen und Burschen und um Integration.