Was hat Sie bewogen, in die Politik zu gehen? Sollte nicht auch ein Journalist die alte Weisheit beherzigen: Schuster, bleib bei deinem Leisten?
HELMUT BRANDSTÄTTER: Ich war auch schon Unternehmen, habe mit anderen einen Fernsehsender gegründet, hatte eine Agentur. Wir Journalisten schreiben dauernd, es sollte mehr Austausch zwischen der Politik und anderen Berufen geben. Ich habe lange gezögert, aber die letzten 17 Monaten haben mich dazu gebracht, zu sagen: Wir müssen aufstehen. Die Lage ist so, dass man nicht schweigen darf.

War es Ihre Idee, in die Politik zu gehen? Oder die Idee von Herrn Haselsteiner?
Die Mär, Haselsteiner stünde dahinter, ist ein Unsinn. Ich bin vom Generalsekretär der Neos (Anmerkung: Nikola Donig) gefragt worden. Ich hatte wenig Zeit. Ich will es mit aller Demut versuchen.

Und das Buch haben Sie als Kurier-Herausgeber in der Hoffnung geschrieben, bei den Neos anzudocken?
Ich habe in den letzten 17 Monaten alles aufgezeichnet und bin immer davon ausgegangen, dass die Regierung nicht fünf Jahre hält. Ich dachte, irgendein Naziskandal wird auch Kurz zu viel sein. Als Ibiza passiert ist, habe ich schnell das Buch geschrieben.

Was ist das Hauptmotiv, dass Sie in die Politik wechseln - die Neuauflage von Türkis-Blau zu verhindern?
Das ist eines der Motive. Kurz erklärte bisher immer, 2017 habe er keine anderen Optionen gehabt. Diesmal gibt es die Ausrede nicht. Die SPÖ ist offen, die Grünen wackeln in ihrer Meinung noch, und die Neos sind zu Gesprächen bereit. Kurz kann nicht mehr sagen, ich muss wieder mit der FPÖ.

Wenn man sich die Umfragen anschaut, legt die ÖVP zu, die FPÖ nimmt ab. Unter dem Strich bleiben die Kräfteverhältnisse ähnlich. Eine klare Mehrheit der Österreicher kann Ihrer Argumentation wenig abgewinnen. Warum ist das so?
Weil noch nicht alle das Buch gelesen haben – das meine ich scherzhaft. Die Wähler werden erst in den nächsten Wochen im Zuge der Debatten erst merken, was so alles passiert ist. Und viele in der ÖVP wollen keine Neuauflage.

Mag sein, aber Kurz ist immer noch der unumschränkte Chef?
In der ÖVP hat man gedacht, die FPÖ ist eine bürgerliche Partei. Das ist sie nicht. Mölzer selbst sagt, die FPÖ sei eine revolutionäre Partei.

Könnten Sie nach dem Buch, das einer Abrechnung auch mit Kurz gleich kommt, mit ihm koalieren?
Strache hat Kurz Ohrwaschelkaktus genannt und gemeint, Kurz gehe über Leichen, und dennoch hat Kurz mit Strache koaliert. Ich habe nie Kurz beschimpft, sondern nur Fakten aufgelistet. Es ist normal, dass man nach einer Wahl mit Leuten zusammenarbeitet, die man vorher kritisiert hat.

Nochmals die Frage: Könnten Sie sich in den Spiegel schauen, wenn die Neos mit Kurz koalieren, nach den harten Worten im Buch?
Ich weiß ja nicht, was seine gesellschaftspolitischen Überzeugungen sind. Es ist sicherlich nicht die katholische Soziallehre. Zum Thema Solidarität habe ich nichts gehört. Ich habe aber viel gehört, was die Gesellschaft spaltet.

Sie klingen wie ein enttäuschter ÖVP-Anhänger.
Ich war nie ÖVP-Mitglied. Ich bin enttäuscht, dass die ÖVP unter Kurz in den letzten Jahren diese Stimmung der Spaltung der Gesellschaft zugelassen hat. Ich bin enttäuscht, dass man sagt: Wir wollten nicht streiten. Dass unter Kurz das Nichtstreiten wichtiger war als Menschlichkeit und Anstand, hat mich sehr enttäuscht.

Sind die Neos die bessere ÖVP?
Die Neos sind die Neos. Die Idee der Freiheit ist mir wichtig. Am besten gefällt mir das Bildungskapitel der Neos. Sie treten wie ich für die Förderung der Schwachen wie auch der Starken ein. Die Bildungsdebatte der Regierung hat sich darauf beschränkt, dass man wieder zu den Noten zurückkehrt. Absurd.

Sie werden im Klub auch für Europa verantwortlich sein?
Als ich 1981 bei der EU-Kommission mit Kollegen aus anderen Ländern zusammengearbeitet habe, habe ich gewusst, dass unsere Väter aufeinander geschossen haben. Wir haben die Chance, ein vereintes Europa aufzubauen. Und die Regierung kommt daher und sagt, sie will Pässe für Südtiroler. Wir wollen einen europäischen Pass

Waren die EU-Wahlen keine Option?
Die Neos haben mich erst nach der EU-Wahl gefragt. Ich finde Claudia Gamon großartig, vor allem, dass sie Tabus gebrochen hat, die Neutralität infrage stellt, von den Vereinigten Staaten von Europa redet.

Ist die Neutralität nicht mehr zeitgemäß?
Bruno Kreisky und andere haben geschrieben, dass Österreich die Neutralität gebraucht hat, um den Staatsvertrag zu bekommen. Die Neutralität ist ein Grundmythos und war 1995 für unsere Sicherheit sehr wichtig. Ich glaube nicht, dass das heute noch gilt.

Sie bleiben fünf Jahre im Parlament, selbst als Hinterbänkler?
Wenn ich gesund bleibt, ja.

Der ehemalige Zib-1-Moderator und spätere SPÖ-Abgeordnete Josef Broukal hat nach seinem Ausscheiden aus der Politik ein Buch verfasst, wo er ernüchtert das Bohren harter Bretter beschreibt.
Ich gehe sehr nüchtern hinein, die Gefahr der Ernüchterung ist also sehr gering. Ich mache mir keine Illusionen.

Letzte Frage, die ich Ihnen nicht ersparen kann: Ihr Frau arbeitet beim ORF und moderiert ein innenpolitisches Magazin (Anmerkung: die Sendung Hohes Haus am Sonntag). Ist das vereinbar?
Wir leben im Jahr 2019. Frauen haben auch einen Beruf, und sie sollen den Beruf in Ruhe ausüben können. Unvereinbarkeiten sehe ich nur bei Abhängigkeitsverhältnissen. Das ist bei uns nicht gegeben, deshalb bitte ich, meine Frau in Ruhe zu lassen. Sie kann nichts dafür, dass ich in die Politik gehe.

Sie arbeitet aber in einem innenpolitischen Magazin.
Ich werde nicht in ihrer Sendung auftauchen. Ich glaube auch nicht, dass Stefan Gehrer seine Mutter (Anmerkung: Elisabeth Gehrer war Unterrichtsministerin) interviewt hat, oder Gabi Waldner ihren Bruder (Anmerkung: Wolfgang Waldner war Staatssekretär) befragt hat.

Kann Ihre Frau Meinl-Reisinger interviewen?
Ja selbstverständlich. Wichtig ist die Transparenz. Schlimmer wäre, wenn ich im Hintergrund eine Partei beraten würde und sie dann den Parteichef interviewt. Es gibt ORF-Moderatoren, die früher bei Parteien gearbeitet haben, und das war damals auch kein Problem. Ich finde die Debatte unfair: Wenn ich der Moderator wäre und sie ginge in die Politik, gebe es die Debatte gar nicht.