Flüchtlingsexperte Gerald Knaus - er gilt als Architekt des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei - plädierte im Gespräch mit der ZiB2 des ORF Montagabend für mehr Realismus in der Debatte über Migration und Seenotrettung. Es sei illusorisch zu glauben, dass die europaweite Verteilung der Flüchtlinge derzeit in Brüssel bzw. Straßburg durchzubringen sei.  Gleichzeitig sei die Zahl derer, die sich über das Mittelmeer nach Europa aufmachten und von deutschen NGOs geretten würden, überschaubar - wenige Hundert im Monat.

Knaus plädiert, nach dem Vorbild der Aufnahme der seinerzeitigen "boat people" der 70er Jahre aus Vietnam, dafür, dass Flüchtlinge, die von deutschen Rettungsschiffen aufgenommen werden, in Kooperation mit den Behörden in Malta dort an Land gehen und nach Deutschland weiterreisen dürfen. Damit könne Italiens Premier Salvini der "Mythos weggenommen werden", wonach nordeuropäische "Piraten" das arme Italien mit einer Vielzahl von Flüchtlingen alleine ließen.

Denn: Das Gegenteil sei der Fall, wie Knaus anhand der Zahlen belegte: Italien habe in den Jahren 2013 bis 2017 zwar viele Flüchtlinge an Land gebracht, aber viele hätten keinen Asylantrag gestellt bzw. seien gleich weitergereist. "In Italien haben in den letzten Jahren 92.000 Menschen Schutz bekommen, in Schweden 220.000, in Deutschland 900.000."

"Kurz ignoriert die Realität"

Ex-Kanzler Sebastian Kurz hat in der "Welt am Sonntag" am Wochenende seine alte These wiederholt: "Wenn wir sicherstellen, dass jeder, der sich illegal auf den Weg macht, zurückgebracht wird in sein Herkunftsland oder in ein Transitland, werden wir die illegale Migration stoppen, das Geschäft der Schlepper zerstören und das Wichtigste: das Ertrinken im Mittelmeer endlich beenden."

Er erntete dafür massiven Widerspruch von Bild-Redakteur Paul Ronzheimer, der 2018 eine Biografie von Kurz veröffentlicht hatte. Ronzheimer schrieb in einem Kommentar, das Problem seien "NICHT" die Seenotretter.

Kurz sage das schon seit Jahren – und ignoriere dabei völlig, was in Libyen, dem Land, aus dem sich immer noch Zehntausende pro Jahr auf den Weg nach Europa machen, passiere, so der Redakteur. "Wenn ich mit Menschen in Libyen spreche, dann wollen sie nur eins: raus aus dem Land! Sie haben schon so viel erlebt, dass ihnen das Risiko auf dem Meer noch als das geringste Übel erscheint."

Dramatische Lage

Er sei mehrfach in Libyen gewesen und kenne die Lage. Selbst die "guten" Internierungslager seien dort in einem dramatischen Zustand: "Flüchtlinge sitzen dort eingepfercht wie Tiere, es gibt keine Toiletten, zu wenig Wasser, Krankheiten breiten sich aus."

Es gebe keine einfachen Lösungen. Nicht die Freiwilligen, die Menschen vor dem Ertrinken retten, seien das Problem, sondern die, die ihnen in Libyen und anderswo Gewalt antun. "Wenn Sebastian Kurz und andere in der EU es ernst meinen, dann müssten sie für Frieden, für Rechtsstaatlichkeit in Libyen sorgen – und das geht im Zweifel nur mit UN-Truppen."

"Taten statt Rhetorik"

Auch Knaus appelliert an Länder wie Österreich, Taten zu setzen anstatt sich in Rhetorik zu erschöpfen. Schweden habe in den letzten sechs Jahren 15.000 Menschen im Wege des Umsiedlungsprogrammes aufgenommen, Österreich weniger als 1.500. Gleichzeitig habe Schweden 130 Millionen Euro für Flüchtlingsprogramm an das UNHCR gezahlt, Österreich "einen Bruchteil davon".  Und den Beitrag zum Welternährungsprogramm habe Österreich von sechs Millionen auf zwei Millionen reduziert: "Schweden zahlt 70mal mehr".

Die Lösung für Knaus: Mit den Herkunftsländern kooperieren, dazu beitragen, dass diese den Menschen Perspektiven geben könnten, "und erst dann zurückschicken".