Ach, das Gymnasium. Am Anfang war es eine Anstalt, in der die Knaben ihre nackten Körper in Form und ihre pädophilen Lehrer in Wallungen brachten. Schon Platon hat sich darüber mächtig empört. Dann war es das Flaggschiff der neuhumanistischen Bildungsidee, auf dem sich die Söhne der Ärzte und Staatsbeamten an der Sprache und den Texten der Alten abarbeiteten. Friedrich Nietzsche hatte dafür nur noch Hohn und Spott übrig. Noch später wurde es zur höheren Schule schlechthin, die allen alles bieten sollte. Mehr als eine schnöde Halbbildung, so konstatierte Theodor W. Adorno grimmig, ist dort nicht zu holen. Seit es das Gymnasium gibt, ist es an seinen Ansprüchen gescheitert. Nicht zuletzt deshalb ist so erfolgreich.

Ein klares Profil hat das Gymnasium schon lange nicht mehr. Der klassische Typ mit den Schwerpunkten Mathematik, alte Sprachen und deutsche Literatur wurde längst ergänzt durch neusprachliche, naturwissenschaftlich-technische und wirtschaftsorientierte Zweige. Die zunehmenden Wahlmöglichkeiten der Schüler und der Zwang zur „Profilbildung“ der Schulen lassen es im Dunkeln, was von einem Abiturienten noch erwartet werden darf. Und dennoch: Aufs Gymnasium wollen alle. Es kann heute also nicht mehr darum gehen, diese Schule für viele attraktiv zu machen – das ist sie ohnehin. Sehr wohl aber kann es darum gehen, eine bestimmte Form des Wissens und der Wissensermittlung, also der Bildung in Erinnerung zu rufen, die im Reformfuror der letzten Jahre denunziert oder vergessen worden ist.

All das ist ziemlich viel verlang, vielleicht zu viel.

Von der Reproduktionsanstalt bildungsbürgerlicher Schichten wurde es zur Normschule. Wer das Gymnasium nicht schafft, hat nicht einen anderen, sondern gar keinen Bildungsweg eingeschlagen und muss in Hinkunft mit dem hässlichen Etikett der Bildungsferne leben. Das Gymnasium garantiert schon lange keinen gesellschaftlichen Aufstieg mehr, aber es ist dessen unbedingte Voraussetzung. Zunehmend hat das Gymnasium so die Aufgabe, die unterschiedlichen Herkünfte, Milieus, Begabungen und sozialen Schichtungen zu synchronisieren, bei gleichzeitiger innerer Differenzierung und zumindest verbal gestiegener Leistungsanforderung.

Junge Menschen sollen naturwissenschaftlich-technisch versiert sowie medienkritisch und mit sozialen Kompetenzen ausgestattet wettbewerbsfähig die Schule verlassen. Gleichzeitig versteht sich auch das Gymnasium als ein Ort, an dem es weniger um die Vermittlung von tradiertem Wissen und neuen Kenntnissen, sondern um soziale Integration und Inklusion sowie die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. All das ist ziemlich viel verlangt. Vielleicht zu viel. Vor allem aber schafft es Unsicherheit gegenüber der Frage, was das Gymnasium in Zukunft noch sein soll.

Die Neuorientierungen in der Pädagogik und die Dauerreformen tragen zudem nicht gerade zu einem klaren Bild bei: Kompetenzen statt Wissen, individuelle Schwerpunkte statt kanonischer Texte, soft skills statt Sekundärtugenden, Bildungsstandards statt Stoff, innovatives Lernen statt Wiederholen, Kreativität statt Üben, Integration statt Selektion. Die Erwartungshaltungen sind hoch, aber niemand weiß mehr, was man sich von dieser Schule erwarten darf. Den Mut und die Kraft, verbindlich in die Grundlagen einer Kultur und ihre herausragenden Werke einzuführen, hat das Gymnasium wohl schon längst verloren.

Es geht um die Faszination von einer Sache

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. Noch nie hat sich ein Mensch in einem wirklichen Bildungsprozess etwa für eine bestimmte philosophische Lebensauffassung interessiert, bloß um daran seine eigene Argumentationskompetenz zu üben, sondern es läuft immer umgekehrt: Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und erhält so eine Verbindlichkeit, auf die der verstehen wollende Mensch gleichsam genötigt ist, durch die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache gerecht werden zu können.

Genau um diese Faszination, die von einer Sache, einem Thema, einem Gegenstand, einem Namen, einem Buchtitel, einer Frage ausgehen kann, werden kompetenzorientiert unterwiesene Kinder und Jugendliche gebracht; sie werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substanzielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und fremder Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen.

Der Einsatz neuer Technologien hat nichts verbessert

Ein Bildungsbegriff etwa, der Lesen auf effiziente Informationsbeschaffung und Schreiben auf einen pragmatischen Kommunikationsakt reduziert, wird paradoxerweise dazu führen, dass gerade diejenigen, die mit den digitalen Medien aufwachsen, diese nicht in einem umfassenden und avancierten Sinne nützen können. Ohne Leselust, ohne auch die Erfahrung von Leseleid, ohne die Begegnung mit Büchern, die ein Leben verändern, bleiben die viel gerühmten Kompetenzen leere Versprechungen. Man kann zwar lesen, aber ohne dass dies zu einer lebensbegleitenden Leidenschaft wird, verliert sich diese Fähigkeit wieder, friert ein auf einem Niveau, das kaum für das Entziffern der Botschaften der Werbewirtschaft ausreicht. Die aktuell forciert betriebene Digitalisierung von Schulen und Universitäten, die sich alles Heil von Geräten und nicht von Ideen erwartet, verhindert in großem Maßstab die Entwicklung jedes Interesses für die Literatur. Denn um dieses zu wecken, bedarf es keiner digitalen Endgeräte, keiner Apps und schon gar keiner Programmierkenntnisse. Interesse für Literatur wird geweckt, wenn man im richtigen Moment das richtige Buch in die Hand gedrückt bekommt.

Seit Jahren wird mit Computern, Laptops, Whiteboards, Tablets, Smartphones unterrichtet, und alle Erfahrungen und Studien zeigen, dass der Einsatz dieser Technologien nichts verbessert, die Lernleistungen, die Konzentrationsfähigkeit, die Artikulationsmöglichkeiten und das Wissen nicht steigen, sondern sinken, bestenfalls gleich bleiben. Trotzdem wird unentwegt getrommelt, dass die Digitalisierung der Bildung das Gebot der Stunde sei.

Man muss der Idee von Bildung nicht zutrauen, alle Probleme dieser Welt zu lösen. Bildung ist kein säkularer Ersatz für die Heilsversprechen der Religionen, auch wenn der Gestus des Erlösers von Bildungsexperten gerne in Anspruch genommen wird. Aber Bildung ist auch nicht auf Qualifikationsmaßnahmen, Zertifizierungsverfahren, künstliche Wettbewerbe, Chancenverteilung, Steigerung von Absolventenzahlen um jeden Preis und hemmungslose Kompetenzproduktion zu reduzieren.

"den Menschen zum Menschen begaben"

Bildung hat mit der Entwicklung von Persönlichkeiten zu tun, sie hat mit der Vermittlung jener geistigen Fundamente zu tun, auf denen unsere Zivilisation aufbaut, und sie hat mit jenen Kenntnissen, Techniken und Fähigkeiten zu tun, die schlechterdings notwendig sind, um sich in dieser Gesellschaft zu orientieren und als selbstbewusster, mündiger Bürger zu behaupten. Bildung hat deshalb immer auch mit dem Abarbeiten an Normen und Standards zu tun, zu dem durchaus die Auseinandersetzung mit kanonischen Werken, Texten und Theorien gehört. Der Leistungsgedanke kann deshalb ruhig wieder ein wenig reaktiviert werden.

Alle Kenntnisse, alle Fähigkeiten, die im Zuge eines Bildungsprozesses erworben, geübt und weiterentwickelt werden, dienen nicht nur der Eingliederung eines Menschen in eine vorgegebene Welt der Technik und Ökonomie, sondern sind auch Vorbedingung für die Formung einer mündigen Person. Letztlich bleibt Bildung, nach einem Wort des vergessenen Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn, der „Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben“. Es ist ein Versuch, der gegen alle Formen des einseitigen Trainings, der berufsorientierten Qualifikation und marktorientierten Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat, ein Versuch, von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann. Aber es ist der einzige Versuch, der einen Versuch wert ist.