Am 18. Juni wird Jürgen Habermas 90 Jahre alt. Trotz seines oft spröden Stils gehörte er zu den intellektuellen Helden meiner Studienzeit – und ist es bis heute geblieben. Habermas gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Sozialphilosophen. Widerborstiger Schüler der neomarxistischen Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, mischte er sich denkgewaltig in die studentische Revolte der Achtundsechziger-Bewegung ein und prägte zivilcouragiert das Wort vom keimenden „Linksfaschismus“. Jahrzehnte später wird er, der Glaubensagnostiker, mit Josef Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., über Säkularisierung diskutieren.
Lange war es um Habermas still geworden. Die Feuilletonbühne beherrschten teils Ironiker, teils Feuerköpfe – Peter Sloterdijk und Slavoj Zizek seien pars pro toto genannt. Deren Bewunderer wissen nicht, sollen sie die Neue Rechte favorisieren oder doch wieder das „Kapital“ von Karl Marx lesen. Und während es in der großen Welt drunter und drüber geht, bricht im kleinen Österreich eine Koalition auseinander, die ein junger Sonnenkanzler in dem naiv-ehrgeizigen Glauben schmiedete, ein Parteiengebräu aus Machtgier, Korruptionslust und Fremdenhass bändigen zu können.
Nun haben wir, bis das Volk zur Wahlurne schreitet, eine Übergangsregierung, vorwiegend aus Repräsentanten des hohen Beamtenstandes. Sehen wir von einigen Stimmen aus der schickkonservativen Slim-Fit-Presse ab, wird „Hans Kelsens Verfassung“ gelobt, weil sie uns davor bewahrt, in eine Staatskrise oder gar in den Ausnahmezustand zu schlittern. Man hat, zumindest einen Moment lang, aufgehört, im Untergang-des-Abendlandes-Ton von der Notwendigkeit zu reden, wir müssten uns wieder auf unsere Heimat, unsere Volksseele, auf das große „Wir sind wir!“ besinnen (Wer immer wir sein mögen, von Vorarlberg bis ins Burgenland). Für einen langen Moment sind wir – zumindest die Bedachtsamen unter uns – zu so etwas wie „Verfassungspatrioten“ geworden. Und ebendieser Umstand bringt mich wieder zu Habermas zurück. Denn er machte die Wortprägung populär, und damit freilich auch zu einem Reizwort.
Man mag die „Gedenkkultur“ unserer Tage eine jährliche Pflichtübung nennen, trotzdem ist sie es, welche die Erinnerung an die einst erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den diversen vaterländischen, religiösen und linksradikalen Fraktionen wachhält. Der Verfassungspatriot hingegen favorisiert Prinzipien, die ein friedliches Miteinander bei weltanschaulichen und metaphysischen Differenzen gewährleisten. Was also reizt an dem Anspruch, Patriotismus als öffentliche Haltung leite sich aus der Verfassung ab? Diese verkörpert das Insgesamt liberaldemokratischer Werte, die auf das Wohl aller, das Gemeinwohl, gerichtet sind.
Sollte der Souverän, also das Volk, wirklich nicht begreifen, dass unsere schwer erkämpfte Rechtsordnung das fundamentale Bedürfnis nach einer sicheren Existenz unter den Leitideen der Bewahrung des Lebensraumes, der gerechten Regierung und der Förderung des allgemeinen Wohlstandes widerspiegelt? Oder wird das Volk zum faustballenden Mob pervertiert, damit die Populisten endlich an die Futtertröge der Nation kommen? Besonders zwei Momente befeuern die „patriotische“ Offensive:
Ohne Menschenrechte keine demokratische Verfassung
Erstens kann es keine demokratische Verfassung geben, falls sich unter ihren Bausteinen nicht der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und die im Westen anerkannten Menschenrechte finden. Ihrem Wesen nach gelten diese Normen streng allgemein, sie gelten ausnahmslos für alle. Das passt vorzüglich in eine Welt, die unter dem Gesetz der Globalisierung steht. Doch gerade sie ist es, die den Ruf nach einer Wiederbesinnung auf das nationale Ganze militant werden lässt. Deshalb muss der Verfassungspatriot mit dem Vorwurf rechnen, sich vor der „Heimat“ ins abstrakte Dickicht der Rechtsgrundsätze zu verkriechen.
Und deshalb wird, zweitens, die Forderung laut, das Eigene wieder stärker in die Gesetzgebung einzubinden. Der Zuzug von „Volksfremden“ muss gestoppt und es muss wieder stärker ein Bekenntnis zu unserer religiösen Tradition und Kultur erfolgen. „In einem christlichen Land hängt ein Kreuz an der Wand.“ Es gehört zur Hässlichkeit des Vaterländischen, wenn antisemitische Ausschreitungen klammheimlich von jenen goutiert werden, die sich stolz „Österreicher“ nennen. Wenn das Volk keine Juden mag, von den Muslimen ganz zu schweigen, dann liegt der Grund – so die populistische Rechtfertigung dieses Bestiariums an Gefühlen – in der geleugneten Volksseele, die bereits überkocht.
Gegen derlei Entgleisungen opponiert der liberale Verfassungspatriot, der deshalb von der Rechten als „heimatloser Linker“ verunglimpft wird. Dabei engagiert er sich keineswegs gegen ein Nationalbewusstsein, das in der Vielfalt privater, aber auch öffentlich geförderter Vorlieben wie dem Sport, der Brauchtumspflege oder dem Denkmalschutz seinen Ausdruck findet, bis hin zum „Kreuz an der Wand“ – vorausgesetzt, solche Aktivitäten behindern nicht die legitimen Freiheitsräume und Chancen der Angehörigen anderer Nationen und Bekenntnisse. Akkurat an dieser Klausel jedoch nimmt die Neue Rechte Anstoß, indem sie, gemäß ihrer Hinneigung zur „konservativen Revolution“ eines Othmar Spann, Oswald Spengler, Carl Schmitt oder Ernst Jünger, im Ursprung antiliberal, antidemokratisch und antiegalitär ist.
Obwohl man Habermas einen unpatriotischen Kosmopoliten nennen mag, sofern man selbst bereits eine patriotische Stellung bezogen hat, bleibt immerhin die Frage: Und was nun? Was stattdessen? Glauben wir den Abendlandrettern, dann hat unsere Zivilisation keine Zukunft mehr. Derart finden wir auf Seiten der Neonationalisten häufig das Motto: „Vorwärts – nach hinten!“ Aber wohin? Zurück zum Führerstaat, zur Herrschaft des Pöbels, gar ins Mittelalter?
Um gegen Habermas respektabel zu argumentieren, müsste man beginnen, sich ernsthaft zu fragen, was eigentlich „konservative Tugenden“ sind. Denken wir an die Ideale des Guten, Wahren und Schönen im humanistischen Sinne. Demzufolge ist Widerstand angebracht gegen die – angeblich fortschrittserforderliche – Dekonstruktion jener Ideale des guten Lebens. Denken wir auch an die christlichen Prinzipien der Liebe und Hoffnung, der Hilfsbereitschaft gegenüber den Elenden und, nicht zuletzt, der Pflege all dessen, was uns die Welt an Schönheiten offeriert.
Dass die heute aufflammenden Patriotismen solcher Tugenden weitgehend ermangeln, während sie Hass und Mobbinglust fördern, ist die größte politische Gefahr – eine Gefahr allerdings weniger für den wehrhaft Liberalen. Sein Motto: Intoleranz gegenüber den Intoleranten! Ein Opfer skrupelloser Profitökonomie, enthemmter Eigensucht und liberalistischer Obszönität wird vielmehr der ehrbar-konservative Mensch, dessen verfeinertes Gefühl für alles Bewahrenswerte dem Zeitgeist im Wege steht.