Ostern steht vor der Tür und Kardinal Schönborn sowie Bischof Bünker haben zu theologischen Fragen und zu Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung in eindrucksvoller Weise Stellung genommen. Als jemand, der seine Mitgliedschaft in der katholischen Kirche angesichts der Ereignisse rund um Kardinal Groër beendet hat, möchte ich heute meine letzten Endes positive Sicht auf die Kirche skizzieren.

In meiner Schulzeit im Hietzinger Gymnasium hatte ich neben unserem Griechischprofessor, der mir wie eine Reinkarnation von Sokrates vorkam, zwei herausragende Persönlichkeiten als Lehrer. Der Musikprofessor hieß Friedrich Cerha. Er ist jetzt 94 Jahre alt und einer der wichtigsten Komponisten. Der andere, Monsignore Alois Beck, war mein Religionsprofessor von der ersten Klasse bis zur Matura.

Ich bin im Jahr 1948 in die erste Klasse des Hietzinger Gymnasiums eingetreten; der Zweite Weltkrieg lag damals erst drei Jahre zurück. Und schon in der zweiten oder dritten Stunde des Religionsunterrichtes erzählte uns Professor Beck, dass er im Krieg Divisionspfarrer in der sechsten Armee der deutschen Wehrmacht war, die Stalingrad erobern sollte. Im russischen Winter 1942/43 blieb sie vor Stalingrad stecken und wurde nach schrecklichen Verlusten an Menschen und Material völlig aufgerieben. Nur ganz wenige – darunter der junge Divisionspfarrer Beck – konnten noch im letzten Augenblick ausgeflogen werden. Der Rest der Soldaten geriet in russische Gefangenschaft und nur sechs Prozent von ihnen überlebten.

Was sich damals in und um Stalingrad abspielte, muss so schlimm und grausam gewesen sein, dass mein Religionsprofessor für den Rest seines Lebens von diesen Erlebnissen geprägt war. Er hat im Religionsunterricht immer wieder von Stalingrad, von den Schrecken des Krieges und vom Faschismus gesprochen – und das buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug. Wenn ich 40 Jahre später, als ich schon Präsident des Nationalrates war, Professor Beck auf der Straße traf, blieb der alte Herr stehen, nahm meinen Arm mit den Worten „Ich muss dir unbedingt noch erzählen“ – und sprach über den Krieg.

Ich bin ihm dankbar und denke, dass meine ablehnende Haltung gegen Krieg, Gewalt und Nationalismus nicht zuletzt durch die Augenzeugenberichte meines Religionsprofessors befördert wurde.
Es war ebenfalls schon während meiner Zeit im Gymnasium, dass mein Interesse an Geschichte und Zeitgeschichte zu wachsen begann. Mein Geschichtslehrer war allerdings – ganz zum Unterschied vom Musikprofessor – ein älterer Herr, der noch im 19. Jahrhundert geboren wurde und daher den Regierungszeiten von Maria Theresia und Josef II. mehr Aufmerksamkeit widmete als den Details aus der Geschichte der Ersten Republik und der jüngsten Vergangenheit.

Daher interessierte ich mich auch für jeden „außerschulischen Geschichtsunterricht“, verschlang Literatur über die Erste Republik und war dankbar für jedes Gespräch mit Persönlichkeiten, die sie als Erwachsene erlebt haben.

In dieser Ersten Republik spielte auch die katholische Kirche eine große politische Rolle. Eine beträchtliche Portion an „Staatskirchentum“ war aus der Zeit der Monarchie geerbt worden. Und über die Christlichsoziale Partei, deren Führungsfigur Ignaz Seipel ein Prälat der katholischen Kirche war, hatte sie zusätzlich starken Einfluss auf die Politik. Der scharfe Gegensatz zwischen Otto Bauer, dem führenden Kopf der Sozialdemokratie, und Ignaz Seipel spiegelte den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und katholischer Kirche wider. Die Kirche kritisierte an der Sozialdemokratie, dass in ihrem Weltbild für Religion kein Platz sei, und die Sozialdemokratie kritisierte an der Kirche, dass sie deutlich und explizit – auch von der Kanzel und in den Hirtenbriefen – gegen die Sozialdemokratie einseitig und mit großer Schärfe Stellung nahm. Das war damals übrigens kein Alleingang der Kirche in Österreich, sondern die Politik des Vatikans.

Vor einigen Jahren ist im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein vom Historischen Institut in Rom herausgegebener Band zum Thema „Die moralische und politische Schützenhilfe des Heiligen Stuhles für den Staatsumbau Österreichs 1933/34 im Lichte vatikanischer Quellen“ erschienen, der sehr detailliert die unglaublich intensive Einflussnahme des Vatikans auf die Politik der von den Christlich-Sozialen geführten Regierungen in Österreich nachweist und dokumentiert. Selbst Bundespräsident Miklas hat vor wichtigen und heiklen Entscheidungen in den Jahren 1933 und 1934 im Wege der Nuntiatur oder über Kardinal Innitzer die Wohlmeinung des Papstes eingeholt.

Nach der Katastrophe vom Februar 1934 reagierte die katholische Kirche mit dem Rückzug der Priester aus der Parteipolitik. Zu diesem Zeitpunkt war zwar das Schicksal der Ersten Republik schon besiegelt und es gab auch keine Parteien mehr, aber es wurde ein Samen gelegt, der nach dem Ende von Krieg und Faschismus in der Zweiten Republik Früchte tragen sollte.

Kirche und Sozialdemokratie begannen in der Zweiten Republik tatsächlich mehr Verständnis füreinander zu entwickeln. Das begann schon in den 1950er-Jahren mit der Einigung über die Anerkennung des Konkordates zwischen dem Vatikan und der Republik Österreich und setzte sich in der Ära Kreisky verstärkt fort. Kreisky, der sich selbst als Agnostiker bezeichnete – also als Mensch, der sich außerstande sieht, zu den letzten Dingen des Lebens unumstößliche und beweisbare Wahrheiten zu erkennen –, hatte große Wertschätzung für die Rolle des Christentums in unserer Gesellschaft. Er sah im Christentum einen Verbündeten im Kampf gegen Gewalt und Ungerechtigkeit, gegen Egoismus und Fremdenfeindlichkeit. Der von Kreisky zum Zentralsekretär der SPÖ bestellte Abgeordnete Karl Blecha war seine stärkste Stütze auf diesem Gebiet und auch ich habe diese Politik für gut und richtig gehalten und unterstützt. Dies umso mehr, als aufseiten der katholischen Kirche mit Kardinal Franz König ein wunderbarer Gesprächspartner zur Verfügung stand. Jedes Gespräch mit Kardinal König unterstützte und festigte die Überzeugung, dass es für Christentum und Sozialdemokratie viele gemeinsame Ziele und Aufgaben gibt, wobei die evangelische Kirche hier ausdrücklich miteingeschlossen werden soll.

Das Thema Fristenlösung war dann in den Siebzigerjahren ein Stachel im Fleisch dieser Beziehungen. Kreisky wäre im letzten Augenblick bereit gewesen, nach einer „dritten Lösung“ zu suchen. Aber eine solche moralisch, medizinisch und rechtlich saubere dritte Lösung, die der Frau nicht ihr eigenes Schicksal aus der Hand genommen hätte und die im Parlament eine breite Mehrheit gefunden hätte, gab es nicht und konnte es wohl auch nicht geben.
Eine sehr schwierige Zeit folgte, als sich die Amtszeit von Kardinal König als Erzbischof von Wien dem Ende zuneigte und im Juli 1986 Hans Hermann Groër vom Papst – wahrscheinlich nicht zur Freude von Kardinal König – zu dessen Nachfolger als Erzbischof von Wien bestellt wurde. Groër führte die Kirche nicht nur auf ganz andere Weise, als Kardinal König dies getan hatte, sondern es wurden auch schon bald nach seinem Amtsantritt Missbrauchsvorwürfe gegen ihn publiziert. Diese wurden zunächst von Groër entschieden zurückgewiesen, aber nachdem führende Mitglieder der Österreichischen Bischofskonferenz in einer gemeinsamen Erklärung feststellten, sie seien zur „moralischen Gewissheit“ gelangt, dass die Vorwürfe gegen Groër im Wesentlichen zutreffen, war er unhaltbar geworden und der Vatikan nahm sein Rücktrittsgesuch an.

Einer der Gründe, warum ich diese Affäre besonders genau verfolgte, war die (an sich nicht wichtige) Tatsache, dass der 1919 geborene Hans Hermann Groër etliche Jahre vor mir in das gleiche Hietzinger Gymnasium gegangen war. Er war also gewissermaßen ein älterer „Schulkollege“ von mir, der auch an einzelnen Schulveranstaltungen teilnahm und sehr strenge moralische Standpunkte vertrat.

In weiterer Folge kamen weitere Fälle von Missbrauch und Gewalt in Einrichtungen der katholischen Kirche (nicht nur in Österreich) ans Tageslicht, die schwere Irritationen auslösten.

Ich bin weder befugt noch in der Lage, dazu ein profundes Urteil abzugeben, aber ich habe den Eindruck, dass unter der Führung von Kardinal Schönborn sehr ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden und werden, mit diesem tragischen Thema sehr verantwortungsbewusst umzugehen. Was man einzelnen Menschen angetan hat, kann man nicht „wiedergutmachen“, aber die Zahlen, wonach nur etwa zwei Prozent aller bekannt gewordenen Missbrauchsfälle seit 1945 auf die letzten 20 Jahre entfallen, deuten auf große Anstrengungen auf diesem Gebiet hin.

Ich habe auch großen Respekt und empfinde Dankbarkeit, wenn Vertreter der Kirchen in Österreich nicht schweigen, wenn in mehreren Staaten Europas, darunter leider auch Österreich, der Begriff der Menschenwürde an den Rand gedrängt oder sogar ignoriert wird, wenn es um Flüchtlinge geht; dass nicht geschwiegen wird, wenn eine Ausdrucksweise um sich greift, die Flüchtlinge pauschal als gefährlich oder als clevere „Einwanderer in unser Sozialsystem“ darstellt, als ob die Flucht aus einer in Krieg und Terror verstrickten Heimat ein raffinierter Schachzug wäre, um sich aus dem Sozialsystem anderer Länder die Rosinen herauszupicken.
Es hat auch keinen Sinn, junge, gut integrierte Flüchtlinge, die einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gefunden haben, gegen den Willen ihrer Arbeitgeber und ihrer Umgebung abzuschieben, obwohl sie benötigt werden. Wenn man in 20 oder 30 Jahren zurückblicken wird, dann wird man sich für manche Worte und Taten der heutigen „Verantwortlichen“ genieren und fragen, wieso das damals möglich war.

Ich habe verschiedene Phasen in meiner Einstellung zu Kirche und Religion erlebt, wobei Kirche und Religion nicht dasselbe sind. Ich bin froh, dass heute der Einfluss der Kirchen auf unsere Gesellschaft meiner Meinung nach überwiegend positiv ist, weil sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte aussprechen.

Religion ist ein fixer Bestandteil der Gesellschaft und für viele Menschen ein Teil ihres Lebens. Daher soll die Gesellschaft den Religionen ihren Freiraum garantieren und die Religion auf der Seite der Freiheit und der Menschenwürde stehen.