"Das ist ein Buch, das in der europäischen Nachkriegsgeschichte einmalig ist.“ Wolfgang Sobotka, Historiker und Nationalratspräsident, greift zu gewichtigen Worten, um das Werk zu beschreiben, das ihm am Montag in der Residenz des österreichischen Botschafters in Prag überreicht wurde.

Lange hatten Tschechen und Österreicher „eher nur nebeneinander als wirklich miteinander gelebt“, wie Václav Havel, Dissident, Autor und tschechischer Präsident, einmal sagte. Nun liegen 411 großformatige Seiten vor, die die gemeinsame Geschichte erzählen, verfasst von 21 tschechischen und österreichischen Historikerinnen und Historikern.

Das Ziel war, nichts auszusparen. Nicht die demütigende Behandlung der Tschechen in der Monarchie, nicht die Gräuel der NS-Besatzer, nicht die Morde an Sudetendeutschen und die Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit nach dem Krieg. Es sollte endlich offen geredet werden über die schwelenden Konflikte, die bis in die Gegenwart ausstrahlen und das Miteinander erschweren. Ein langes Kapitel geht auf die engen kulturellen Beziehungen zwischen den Nachbarn ein.

Nur fünf Jahre dauerte die Arbeit an dem Buch

Wie aber verfasst man im Team die jahrhundertelange Geschichte zweier Länder? Und wer denkt sich so etwas aus?

Die Sache begann 2009 mit der Gründung der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker“, kurz SKÖTH genannt. Die Initiative kam von den Außenministern Österreichs und Tschechiens, Michael Spindelegger und Jan Kohout. 2015 fiel der Entschluss zu dem Buchprojekt.

Zahlreich die Tücken: Man entschied sich, die Geschichte auf die Territorien der heutigen Staaten einzugrenzen und den Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert zu legen. Jeder Text sollte von Historikerinnen und Historikern aus beiden Ländern gemeinsam verfasst werden. „Ich war überrascht, wie schnell wir einen Konsens gefunden haben“, sagt Lubos Velek vom Masaryk-Institut in Prag, einer der Autoren. Am meisten Schwierigkeiten hatten die Österreicher untereinander, erzählt Hildegard Schmoller von der Akademie der Wissenschaften in Wien. Sie stritten über innerösterreichische Konflikte – die Bewertung der Ersten Republik und des Ständestaats. Das in der öffentlichen Debatte auch über die Grenze hinweg heikelste Streitthema aber entzweite das Team nicht – die Vertreibung der Sudetendeutschen. Breit schildert der Band deren politische und rechtliche Rahmenbedingungen sowie die spätere Rechtfertigung und Tabuisierung durch das KP-Regime.

Klare Worte zur Vertreibung der Sudetendeutschen

„Selbstverständlich ist das Faktum der Vertreibung einer ganzen Bevölkerungsgruppe etwas, das nicht gerechtfertigt werden kann“, schreiben die Autoren. Die Begründung, man habe lediglich getan, was die Alliierten in Potsdam gestattet hätten, bezeichnet man als „Potsdam-Mythos“, als eine Fehlinterpretation, die schwere Folgen auch für die Täter hatte. „Das Grenzland leidet bis heute an strukturellen Schwierigkeiten und am Mangel einer langfristigen Bindung der Bewohner an Boden und Land, sodass es trotz der optimistischen Erklärungen der Nachkriegsjahre zur ewigen Peripherie wurde.“

Zustimmend zitiert das Werk Václav Havel, der das Tabu bald nach dem Ende der (C)SSR brach: „Ich persönlich – ebenso wie viele meiner Freunde – verurteile die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Sie erschien mir immer als eine zutiefst unmoralische Tat, die nicht nur den Deutschen, sondern vielleicht in noch größerem Maße den Tschechen selbst Schaden zugefügt hat, und zwar sowohl moralisch als auch materiell. Auf Böses wiederum mit neuem Bösen zu antworten, bedeutet, das Böse nicht zu beseitigen, sondern es auszuweiten.“

Ein gelungenes Werk, das sich zur Nachahmung empfiehlt

Breiten Raum nehmen die Traumata der Tschechen ein. Die Schlacht am Weißen Berg – als 1620 die protestantischen Adeligen gegen die kaiserliche Armee unterlagen – und die anschließende Umverteilung der Güter der Besiegten. „Finsternis“ nennen die Tschechen die darauffolgenden Jahrhunderte. Das Scheitern des Ausgleichs, der 1871 bereits fertig ausverhandelt war, sich aber gegen den Widerstand von Adel und Regierung nicht durchsetzen konnte. Der missglückte Versuch, 1897 die tschechische Sprache der deutschen im inneren Dienstverkehr gleichzustellen. Den Begriff „Völkerkerker“, den die Tschechen damals für die Monarchie verwendeten, halten die Autorinnen und Autoren dennoch für nicht gerechtfertigt. Die damalige Verfassung habe dem Land trotz aller politischen Hemmnisse eine rasante Entwicklung ermöglicht, argumentieren sie.

Wie Zöpfe verflechten die Texte österreichische und tschechische Reaktionen auf dramatische und traumatische Ereignisse der Geschichte bis herauf ins Jahr 2004, als die Tschechische Republik der EU beitrat. Im Herbst soll die tschechische Übersetzung vorliegen, schon im Mai Unterrichtsmaterial, das auf dem Buch basiert.

Das gelungene Beispiel empfiehlt Nachfolgeprojekte – warum nicht mit Ungarn oder Slowenien Geschichte schreiben?