Pro:

Wenn ich den Gesetzestext zur sogenannten eugenischen Indikation lese, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken: Wie muss es den 1,4 Millionen Menschen mit Behinderung in Österreich gehen, wenn sie das hören oder lesen? Der Präsident des Österreichischen Behindertenrates, Herbert Pichler, selbst ein Betroffener, erzählte in einer Podiumsdiskussion, dass seine Behinderung „auf der Liste“ der Spätabtreibungsgründe zu finden sei. Der Gesetzestext besagt u. a., dass eine Abtreibung über die 3-Monats-Frist hinaus möglich ist, wenn „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“. (StGB § 97, Abs. 1 Z 2 Fall 2).
Einerseits ist es erfreulich, dass wir uns wie nie zuvor um Inklusion bemühen und darum, dass Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft rücken; andererseits halten wir per Gesetz an einer himmelschreienden Ungleichbehandlung fest, indem wir ein Unwert-Urteil über diese Ungeborenen aussprechen und vor der schrecklichen Entscheidung stehen, welches Leben nun lebenswert ist und welches nicht.

Um mit einem Missverständnis aufzuräumen: Das Ende der embryopathischen Indikation bedeutet nicht, dass keine Spätabtreibungen mehr durchgeführt werden können. Die medizinische Indikation, also jene, bei der der physische wie auch psychische Zustand der Frau im Fokus steht, bleibt unangetastet. Es geht hier also nicht um eine generelle Abschaffung der Spätabtreibung, sondern um ein Ende der „Sonderregelung“ für Menschen mit Behinderung.
Damit machen wir eine gewichtige Aussage: Wir brechen eine Lanze für eine größere gesellschaftliche Akzeptanz und stellen uns gegen Ausgrenzung. Wir kommen zur Ruhe in unserem unermüdlichen Streben nach Perfektion in jeder Hinsicht – für uns selbst und für unsere Kinder. Wir überlegen uns als zivilisierte Gesellschaft andere Antworten auf (lebensbedrohliche) Krankheit und Behinderung als eine Todesspritze ins Herz. In Deutschland wurde die eugenische Indikation 1995 abgeschafft, was zu einer größeren Akzeptanz und zu einer Senkung der Zahl der Spätabbrüchen führte. In der Schweiz wurde sie nie eingeführt.
Gleichlaufend mit einer neuen Regelung müssen verstärkte Unterstützung und konkrete Hilfe für betroffene Eltern zur Verfügung stehen, auch nach der Geburt eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen. Da müssen politische Weichen gestellt werden; aber auch wir, als Menschen, dürfen mithelfen und ermutigen, sodass niemand allein gelassen ist.

Petra Plonnerist Erstunterzeichnerin der parlamentarischen Bürgerinitiative #fairändern, die seit Juni letzten Jahres von über 60.000 Personen unterschrieben wurde. Diese Initiative fordert unter anderem ein Ende der eugenischen Indikation.

Petra Plonner von der Bürgerinitisative #fairändern
Petra Plonner von der Bürgerinitisative #fairändern © (c) Armin Russold

Contra:

Der Abbruch einer Schwangerschaft wird in allen Rechtsordnungen geregelt, wobei die Bandbreite von einem praktisch völligen Verbot bis hin zur weitgehenden Freigabe reicht. Die österreichische Norm aus dem Jahr 1975 versucht klar erkennbar, dem Charakter der Konfliktlösung gerecht zu werden, indem sie den Abbruch nur unter Ausnahmen straffrei stellt. Diese sind der Wunsch der Patientin, eine zeitliche Grenze ("Fristenlösung"), gesundheitliche Gefährdung oder Unmündigkeit der Schwangeren sowie "ernste Gefahr einer Schädigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit des werdenden Kindes". Auch die Rolle des Arztes wird angesprochen insofern, als kein Arzt zu einem Abbruch gezwungen werden kann, noch jemandem ein Vorwurf wegen eines legalen Schwangerschaftsabbruch gemacht werden darf. Diese Regelung erweist sich im medizinischen Entscheidungsprozess deshalb als gut anwendbar und alltagstauglich, weil sie allen drei Beteiligten (Schwangere, Kind, Arzt) eine gewichtige Rolle und Rechte zuweist. Sie sollte daher als Gesetzestext in der derzeitigen Form beibehalten werden.

Wird aus diesem gut ausbalancierten Interessenausgleich mit einem "shared decision making" die Gefahr einer kindliche Erkrankung gestrichen und ausschliesslich auf die rein psychische Gesundheitsgefährdung der Mutter abgestellt, so ergibt sich folgendes: Die gesamte Last der Entscheidung verlagert sich auf die Schwangere, sie muss sich selbst als unfähig darstellen, ein Kind mit einer Fehlbildung oder Behinderung aufzuziehen, eine Aufgabe, die "bessere Mütter" doch schaffen. Vermutlich werden eloquente und gebildete Frauen ihre Situation glaubwürdiger darstellen können als jene aus bildungsfernen Schichten, also wird eine neue soziale Ungerechtigkeit geschaffen.

Weiters sind auch neue Konflikte denkbar, wie etwa Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch bei korrigierbaren Fehlbildungen wie Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder Extremitaetenfehlbildungen. In diesem Fall müsste der Arzt ja doch als Anwalt des Kindes den Schweregrad der Erkrankung bewerten und den geforderten Abbruch verweigern, obwohl die dann einzige Indikation (psychische Unfähigkeit der Mutter) gegeben waere.

Unter der derzeitigen Regelung lässt sich mit voller Überzeugung sagen, dass Schwangerschaftsabbrüche nur nach gesicherten Diagnosen durchgeführt werden (und nicht nur nach dem gesetzlich geforderten ernsthaften Verdacht!). Der notwendige Diagnoseweg dauert jedoch manchmal mehrere Wochen und es wäre verständlich, wenn eine Schwangere unter der angestrebten Neuregelung die Mühen, nach dessen Ende sich als unfähige Mutter darzustellen, nicht auf sich nimmt und "auf Verdacht hin" abbricht.

Martin Langerist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in der Abteilung für Geburtshilfe und Fetomaternale Medizin Medizinische Universität Wien

Martin Langer, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Martin Langer, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe © KK