Seit Wochen wird über einen Satz des derzeitigen Innenministers diskutiert. Demnach habe das Recht der Politik und nicht die Politik dem Recht zu folgen. Was die empörten Reaktionen aus den verschiedenen politischen Lagern, auch dem des Koalitionspartners, betrifft, fühlt sich der Innenminister missverstanden. Ist die Regierung nicht dazu da, um zu regieren? Gewiss.

Im Parlament werden Gesetze beschlossen, einfache Gesetze mit einfacher Mehrheit, Verfassungsbestimmungen mit Zweidrittelmehrheit. Für Verfassungsänderungen benötigt eine Regierung, sofern sie nicht über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, die Opposition. Will die Regierung ein Gesetz beschließen, wodurch eine Gesamtänderung der Verfassung einträte – wie beim Beitritt Österreichs zur EU –, dann muss zudem noch eine Volksabstimmung durchgeführt werden, deren Ergebnis für den Gesetzgeber bindend ist.

Eine Gesamtänderung liegt vor, wenn in die „Baugesetze der Verfassung“ eingegriffen wird, welche das Fundament unserer rechtsstaatlichen Demokratie bilden. Hierher gehört beispielsweise das Prinzip allgemeiner, freier Wahlen oder das Prinzip, wonach jede Vollzugshandlung auf der Basis von Gesetzen zu erfolgen habe. So weit, so gut, warum also die Erregung?

Kein Zweifel, es gibt eine Möglichkeit, den Satz des Innenministers derart zu interpretieren, dass er schlicht bedeutet, die Politik habe ihre – wie man sagt – „Hausaufgaben“ zu erledigen. Sie habe für gesetzliche Regelungen dort zu sorgen, wo solche notwendig scheinen, sei es aus Gründen der allgemeinen Sicherheit, der sozialen Gerechtigkeit oder des Schutzes der Privatsphäre. Dann jedoch wäre der Satz eine Banalität, die vermuten ließe, dass sich dahinter ein anderer Sinn verbirgt.

Und wollte unser Innenminister nicht tatsächlich mehr sagen, unter Verweis auf „menschenrechtliche Konstruktionen“, welche die Schlechterstellung von Asylwerbern behindern? Die Verfassung beinhaltet ja eine Reihe grundlegender Normen, die kein Politiker infrage stellen sollte, da sie aus den schmerzhaften Erfahrungen der Geschichte, aus Welt- und Bürgerkriegen mit Millionen Toten, hervorgegangen sind.

Dazu gehört der Gleichheitsgrundsatz, welcher eine Ungleichbehandlung aus Gründen der sozialen und ethnischen Herkunft, der Religion oder des Geschlechts verbietet. Und dazu gehören die klassischen Menschenrechte, die selbstverständlich auch in Österreich im Verfassungsrang stehen. Wer an den Menschenrechten rütteln möchte, um das „subjektive Sicherheitsgefühl“ der Bevölkerung zu verbessern, gibt sich als jemand zu erkennen, der das politische Machtkalkül und seine eigene „Weltanschauung“ (Ideologie) über das Gemeinwohl zu stellen wünscht. Anders gesagt: Er verletzt den humanitären Konsens.

Wird von Politikern das Gemeinwohl so verstanden, dass umlaufende Massenstimmungen ohne Rücksicht auf ihre moralische Qualität in die Gesetzgebung einfließen müssten, dann haben wir es mit einem zentralen Aspekt des sogenannten „Populismus“ zu tun. Das Volk mag keine Juden, keine Türken, keine Afghanen? Also, sagt der Populist, ist es die Aufgabe des Rechts, die Volksmeinung in Gesetze zu gießen, sodass jene Gruppen schlechter gestellt werden als solche, an denen das Volk keinen Anstoß nimmt.

Damit ist bereits der erste Schritt zur „illiberalen Demokratie“ getan – ein Schritt zur Vernichtung der demokratischen Substanz. Weitere Schritte sind aus anderen Ländern wohlbekannt, sie wurden bereits gesetzt oder werden in Kürze gesetzt werden: Die Unabhängigkeit der Gerichte wird beschnitten, die Pressefreiheit wird eingeschränkt, Repressionsmaßnahmen gegenüber Oppositionellen werden verstärkt.
Ferner: Um die Mehrheit ihrer Wähler bei Laune zu halten, werden – unter dem Stichwort „Gerechtigkeit“ – von den Populisten häufig „soziale Maßnahmen“ gefordert, deren Umsetzung eine Schuldenexplosion und die Zerrüttung des Staatshaushalts nach sich zöge. Gleichzeitig werden die rasch wachsenden Riesenvermögen, an denen eine zusehends korrupte Politik partizipiert, aus der Schusslinie „unternehmerfeindlicher Kapitalismuskritik“ genommen.

Unsere Verfassung ermöglicht durch ihre zentralen Bestimmungen erst ein Gemeinschaftsleben in Freiheit, Furchtlosigkeit und relativem Wohlstand – also ein Leben, das friedenswillige Bürgerinnen und Bürger anstreben. Daher sollte die Politik ihre Argumente am Leitfaden der Verfassungsgrundsätze ausrichten, nicht umgekehrt. Man denke an die Forderung nach gleicher Entlohnung von Frauen und Männern oder an jene der Chancengleichheit, die für alle Grundgüter des Lebens herzustellen wäre, ob es die Bildung oder den Wohnraum betrifft.

Zur Warnung könnte uns dienen, wozu sich der prominente – heute noch von der Neuen Rechten heftig zitierte – Staatsrechtler Carl Schmitt im Jahre 1934 hinreißen ließ, damals Staatsrat und Hochschulprofessor, später als „Kronjurist Hitlers“ sanktioniert. In einem Aufsatz mit dem Titel „Der Führer schützt das Recht“ schrieb er anlässlich der von Hitler widerrechtlich, weil ohne Prozess angeordneten Ermordung des SA-Chefs und seiner engsten Gefolgsleute: „Wir haben unsere bisherigen Methoden und Gedankengänge, die bisher herrschenden Lehrmeinungen und die Vorentscheidungen der höchsten Gerichte auf allen Rechtsgebieten neu zu prüfen. Wir dürfen uns nicht blindlings an die juristischen Begriffe, Argumente und Präjudizien halten, die ein altes und krankes Zeitalter hervorgebracht hat.“ Wohin dieses Denken führte, ist bekannt: zur schlimmsten Diktatur.

Es ist zwar nicht die Begrifflichkeit, aber die gedankliche Atmosphäre der Stimmungsrhetorik Schmitts, an welche die scheinbar biederen Auslassungen unseres Innenministers gemahnen. Diese lassen durchblicken, dass der menschenrechtliche Schutz, den unsere Verfassung auch unliebsamen, fremden und rechtsbrüchigen Personen gewährt, zu lockern wäre. Dahinter steckt eine Fratze der Demokratie: die „Ochlokratie“, Herrschaft des Pöbels. Dessen Mobbinglaune ist indes großenteils Ergebnis einer populistischen Verhetzung.

Bei Schmitt liest sich das Ungeheuerliche pathetisch, geht es doch darum, dem Führer als „oberstem Gerichtsherrn“ zu huldigen: „Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt.“ Wie wir wissen, war die „Quelle“ – das Volk, der
Souverän – damals bereits verführt, bald auch verraten. Das Recht folgt der Politik? Nicht so. Als Maxime hat vielmehr zu gelten: Nicht einen Schritt weiter in diese Richtung!