Das ist zunächst einmal ein Erfolgsbeweis, der zeigt, dass der Grundgedanke der europäischen Integration verstanden und für richtig gehalten wurde. Die Staaten Europas sollten in der EWG/EU immer stärker als Wirtschaftsunion, als politische Union und als Friedensunion zusammenfinden.

Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg waren jene ersten demokratischen europäischen Staaten, die erkannten, dass eine „immer engere Zusammenarbeit“ nicht nur große ökonomische Vorteile für die beteiligten Staaten bringt, sondern auch mehr Sicherheit und mehr Gewicht in den internationalen Beziehungen.

Und so wuchs die europäische Familie von sechs auf neun Staaten, dann auf zwölf, dann mit 1. Jänner 1995 (durch den Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden) von zwölf auf 15 und schließlich durch die große Osterweiterung in zwei Etappen (2004 und 2007) auf 27 Mitgliedsstaaten, um am 1. Juli 2013 mit Kroatien das 28. Mitglied in die EU aufzunehmen.

Recht auf Mitgliedschaftsantrag

Gemäß Artikel 49 des EU-Vertrags hat grundsätzlich jeder europäische Staat, der die Kopenhagener Kriterien (also grundlegende demokratiepolitische, rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien) erfüllt, das Recht, die Mitgliedschaft in der EU zu beantragen. Aber es gibt keinen Rechtsanspruch auf Mitgliedschaft. Dafür ist vielmehr nicht nur die Zustimmung der zuständigen Organe der EU erforderlich, die zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt sind, sondern es müssen alle bisherigen Mitgliedsstaaten der Aufnahme zustimmen. Diese Hürden zu überwinden, ist im Laufe der Zeit schwieriger geworden. Und zwar nicht nur, weil es schwieriger ist, die Zustimmung von 28 Staaten, Regierungen und Parlamenten zu erreichen, sondern auch, weil sich seit den letzten Erweiterungsrunden vieles verändert hat.

Erstens ist die Heterogenität der Mitglieder gewachsen. Die Unterschiede zwischen Belgien und den Niederlanden sind nun einmal viel geringer als zwischen Estland und Portugal oder – um einen Blick in die Zukunft zu werfen – zwischen Finnland und Albanien.
Zweitens – so wird argumentiert – würde die finanzielle Belastung der sogenannten Nettozahler durch den Beitritt von weiteren südosteuropäischen Staaten weiter steigen. Ein Argument, das ein wachsendes Maß an mangelnder Solidarität erkennen lässt.
Drittens leben wir derzeit in einer Phase eines leider wieder stärker werdenden Nationalismus und es ist eine unleugbare Tatsache, dass nationalistische Emotionen Gift für eine harmonische Zusammenarbeit in der EU und für deren Erweiterung sind. Nicht ohne Anlass hat sich die EU-Kommission in diesen Tagen deutlich über wachsenden Nationalismus in Europa besorgt gezeigt.

Abschied von europäischer Idee

Mit einem Wort: Einzelne Staaten in der EU haben sich von den ursprünglichen Idealen der europäischen Integration, vom Gedanken europäischer Solidarität, von der Bereitschaft, die strengsten Maßstäbe in den Bereichen von Demokratie und Rechtsstaat anzulegen, in den letzten Jahren ein gutes Stück entfernt.
Diesem kritischen Befund stehen Gegenargumente von großem Gewicht gegenüber.

1. Das europäische Projekt ist in erster Linie ein Friedensprojekt und es wäre eine Sünde wider den europäischen Geist, würde man zu einem bestimmten Zeitpunkt die Eingangstüren zu Europa versperren und auch Staaten, die die Beitrittsbedingungen erfüllen, nicht aufnehmen.

2. Sieht man sich die Landkarte Europas an, dann erkennt man, dass es der Logik der Geografie und der Geschichte entsprechen würde, die Westbalkanstaaten in die EU-Familie aufzunehmen und zu vermeiden, dass dort ein „Nicht-EU-Territorium“ als Einfallstor für EU-fremde Interessen, Strategien und Ideologien entsteht.

3. Man muss sich auch die realen Größenverhältnisse vor Augen halten: Die EU hat derzeit (noch inklusive Großbritannien) eine Fläche von 4,4 Millionen km² und 512 Millionen Einwohnern. Allein durch den Brexit wird die EU 65 Mio. Einwohner verlieren und würde durch den Beitritt der Westbalkanstaaten, nämlich Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Bosnien/Herzegowina und Kosovo nur 18 Millionen Einwohner dazugewinnen. Wenn man außerdem bedenkt, dass manche Territorien des sogenannten Westbalkans bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie waren und daher bis heute noch bestimmte Bindungen vorhanden sind, wird man bemüht sein, mit den Westbalkanstaaten so rasch wie möglich Beitrittsverhandlungen zu führen, um dort kein politisches und wirtschaftliches Vakuum entstehen zu lassen, das andere Mächte anzieht.

Spezialfall Türkei

Ein ganz anderes Kapitel ist die Türkei, die seit Langem Mitglied der Nato ist und die bereits 1959, also vor fast 60 Jahren, einen Beitrittsantrag an die EWG gestellt hat.
Es war zunächst klar, dass die Türkei zum Zeitpunkt ihres Beitrittsantrags und auch in den Jahren danach die Bedingungen für eine Mitgliedschaft nicht erfüllte. Nachdem im Land rund um die Jahrhundertwende ein rasanter wirtschaftlicher Aufhol- und Modernisierungsprozess eingesetzt hatte, hat sich der Europäische Rat im Dezember 2004 für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesprochen. Diese Verhandlungen wurden tatsächlich im Oktober 2005 begonnen, sind aber aufgrund der innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei im wahrsten Sinne des Wortes stecken geblieben.

Eine grundlegende Änderung der Situation ist nicht absehbar und obwohl es – strategisch gesehen – manchen Vorteil hätte, wenn Ankara die Hauptstadt eines EU-Staates wäre und obwohl es in der Türkei eine im Wirtschaftsleben stark verankerte Mittelschicht gibt, die nach wie vor an einer Mitgliedschaft in der EU interessiert ist, gibt es derzeit in den EU-Staaten einen weitgehenden Konsens darüber, dass Beitrittsverhandlungen mit der Türkei unter den gegebenen Umständen „leere Kilometer“ seien und ihr Ziel nicht erreichen könnten. Und ich meine, dass es derzeit weder einen Bedarf noch eine Chance gibt, Änderungen an dieser Position vorzunehmen.

Was bedeutet das alles in Summe für die nächsten Schritte zur Erweiterung der EU?
Großbritannien wird aufgrund eines ohne zwingenden Grund vom Zaun gebrochenen Referendums aus der EU ausscheiden, wobei es gute Gründe gibt zu bezweifeln, ob das heute wirklich von einer Mehrheit der Bevölkerung so gewollt wird. Aber das hätte man sich früher überlegen müssen.

"Vertiefung"

Die meisten Staaten des Westbalkans werden im Sinne der Westbalkanstrategie der EU-Kommission vom Februar 2018 so bald wie möglich Verhandlungen über eine Mitgliedschaft in der EU aufnehmen und die Mehrzahl dieser Staaten sollte zum 70. Jahrestag der Gründung der EWG Mitglieder der EU sein. Um dies bestmöglich vorzubereiten, wird es allerdings verschiedener rechtlicher und organisatorischer Anpassungen bedürfen, mit dem Ziel, die Entscheidungsfähigkeit einer EU mit mehr als 30 Mitgliedern zu erhalten beziehungsweise zu verbessern.
Unter den vorstehend skizzierten Annahmen wird allerdings eine „Vertiefung“ der EU in den nächsten Jahren – trotz der Bemühungen von Frankreich, Deutschland und anderen Staaten – keine wesentlichen Fortschritte machen.

Das wiederum wird zur Folge haben, dass der Druck in Richtung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten (oder von mehreren Geschwindigkeiten) zunehmen wird, was meiner Meinung nach ein gangbarer Weg wäre und zum Teil ja auch schon praktiziert wird.
Denn aufgrund unübersehbarer Tendenzen in Europa ist ja nicht auszuschließen, dass Mitte-rechts- und Rechtsregierungen in einzelnen Mitgliedsländern der EU nicht nur weitere Schritte in Richtung Vertiefung der Zusammenarbeit blockieren, sondern – ganz im Gegenteil – versuchen werden, den Retourgang einzulegen, und zur alten Konzeption eines „Europas der Vaterländer“, wie das integrationsfeindliche Konzept der Gaullisten in der Frühzeit der EWG genannt wurde, zurückkehren wollen.

Und aus all diesen Gründen ist eine Mitgliedschaft der Staaten des westlichen Balkans in der EU zwar wünschenswert und wichtig, aber keineswegs ungefährdet.
Wir müssen uns also gemeinsam sehr anstrengen, die Europäische Union auf dem richtigen Kurs zu halten und die nächsten Etappenziele zu erreichen.