Vor hundert Jahren, 1918, erschien ein Buch, das - man muss schon sagen - von epochaler Wirkung war: „Der Untergang des Abendlandes“. Autor: Oswald Spengler, ein dilettierender Universalgelehrter.

Laut Spengler machen alle Kulturen, zeitverschoben, dieselbe Entwicklung durch. Goethe sprach von „Morphologie“: Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisentum. Das klingt nicht sonderlich aufregend, und für den Fachhistoriker ist es ein ärgerlicher Gemeinplatz, halb wahr, halb falsch. Trotzdem: Würde ich an Propheten glauben, Spengler käme mir vor wie einer. Er ist heute geradezu brandaktuell. Warum?

Von Friedrich Nietzsche bezog Spengler die Idee, dass wir hier, in Europa als Teil des Abendlandes, bereits in das Stadium der Vergreisung eingetreten seien. Das Hochfliegende, Kämpferische, „Faustische“ unserer Kultur erlahme und so beginne der Abstieg zur - Zivilisation. Die Schwächung der völkischen, nationalen Heilsordnung führt bei Nietzsche zu den „letzten Menschen“, jenen friedfertigen, nach dem kleinen, wohltemperierten Lebensglück strebenden Erdenbürgern, die wir heute annäherungsweise selbst verkörpern.

Spenglers These ist nun, dass zur Überwindung massenhafter Armut und Erreichung allgemeinen Wohlstands zwar fulminante technische Leistungen nötig seien. Diese brächten aber keine nennenswerte Kultur mehr hervor, sondern eben nur „pöbelhaftes“, ganz und gar äußerlich gerichtetes Wohlleben, garniert mit einer uneigentlichen, fernöstlich inspirierten „zweiten Religiosität“.

Trias des Verfalls

Ingenieurskunst, Wellness-Spiritualität und Mehrparteiendemokratie - das ist demnach die Trias des Verfalls. Währenddessen beginnt, laut Spengler, der Wille zur Macht, der unauslöschlich im Menschen wirkt, sich von den ursprünglich abendländischen Werten abzukoppeln. Zwar wird der Ruf nach Gemeinschaft und autoritärer Führung wieder lauter, Renationalisierung steht auf der Tagesordnung, mit Wohllebenstechniken geht die Entwicklung der Kriegstechnik einher. Doch im Dienste welcher Ideale? Die Parteien verkörpern Proporzdenken, Korruptionsneigung und Selbstsucht. Den starken Fraktionen eigne nach wie vor „Raubtiergesinnung“, allerdings trete diese nun, in der Abendröte der Zivilisation, durch unverhüllt brutale Gestalten zutage: Mussolini, Hitler!

Was Spengler, der 1936 stirbt, an Hitler störte, war - abgesehen von dessen „plebejischem“ Antisemitismus - vor allem der Umstand, dass er als Führer des Deutschen Reiches zugleich Parteiführer sein wollte. Der Führertyp hingegen, der durch die Entfesselung großer Kriege eine Zivilisation ausbrennen lasse, um einer weltgeschichtlich neuen Kultur Platz zu machen - das ist für Spengler der authentische Typ des Cäsaren, welcher die Partei einzig als Instrument seiner Macht- und Überwältigungspläne nützt. Spengler verweigert Hitler die Gefolgschaft und wird von den Nazis totgeschwiegen.

Man könnte meinen, damit sei Spenglers „Morphologie der Weltgeschichte“ zu einer historischen These entschärft, zumal die Staatenordnung nach 1945 die Stärke des westlichen Modells einer „offenen Gesellschaft“ hinlänglich bewies. Doch dieses Modell scheint mittlerweile in eine Reihe „spenglerianischer“ Krisen geraten zu sein. Zumal in den östlichen Staaten der Europäischen Union ist die Neigung zu Präsidialdiktaturen manifest. Die Masse ruft wieder nach dem Führer, der, unter Berufung auf den „Volkswillen“, seine Partei im Sinne umlaufender Größenphantasien instrumentalisiert.

Rasch werden die Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt, die unabhängigen Verfassungsgerichte lahmgelegt, Polizei und Militär gestärkt, während die Gegner, so weit als möglich, eingeschüchtert und, falls unbotmäßig, nach Möglichkeit weggesperrt werden. Damit einher geht Wortgerassel, das auf bedingungslose Verteidigungsbereitschaft setzt. Schließlich gilt es, dem eigenen Volk, das „wieder wer sein will“, zu versichern, man müsse gegen ausländische Infamien schonungslos vorgehen.

Regierung „der rechten Mitte“

Hätte man mir vor geraumer Zeit weismachen wollen, dass die österreichische Mentalität für derartige Entwicklungen anfällig sei, hätte ich unwirsch den Kopf geschüttelt. Ich hätte Trumps Amerika angeprangert, nicht ohne zugleich gegen die europäischen Chauvinisten zu wettern: „Dort vielleicht, aber nicht hier, bei uns!“ Inzwischen - wir haben eine Regierung „der rechten Mitte“ - kommt mir vor, Spenglers Prophezeiung hinsichtlich der inneren Auszehrung jedweder Parteiendemokratie treibe typisch österreichische Blüten.

Einerseits wissen wir, dass substanziell nichts wirklich besser wird, weil nämlich bisher nichts wirklich von Grund auf schlecht war, vom Sozialsystem bis zum Raucherkammerl im Café. Andererseits staut sich im Volk ein Überdruss gegen die „Altpolitiker“ und „Altparteien“, und herrisch ertönt der Ruf nach dem sprichwörtlich starken Mann. Deshalb - ich sag's so launig wie möglich - probt nun hierzulande ein Minicäsarentum, wie man den alten Wein in neue Schläuche füllt.

Um nicht missverstanden zu werden: Von Spenglers Diagnose „Menschengeschichte ist Kriegsgeschichte“ sind wir vorerst weit entfernt. Und doch: Eine einst große bürgerliche Partei hat ihr werthaltiges Profil den „Durchgriffsrechten“ eines Anführers-im-Glück geopfert. Das macht es den Rechtspopulisten im Lande besonders leicht, ihre Machtgelüste - etwa mittels der Praxis des „Umfärbens“ ministerieller und staatsbetrieblicher Schlüsselstellen - als ideologische Leuchtfeuer zu tarnen.

Nach wie vor darf Österreich als „Land der Seligen“ gelten, auch wenn allein in Graz zweitausend Menschen unter Wohnungsnot leiden, obdachlos sind. Das Einzige, was einer säkularisierten Gesellschaft - Spenglers „Zivilisation“ - an Weltanschauung bleibt, ist ihr Glaube an die soziale Gerechtigkeit. Doch das Geld und die Macht der Reichen bleiben, mangels eines glaubwürdigen Sozialismus, unantastbar. Langfristig scheint es europaweit - von der globalen Perspektive zu schweigen - keinen Ausgleich der „Interessen“ zu geben. Die Folge: Egomanie, flottierender Hass.

Und dass die zivilisierte Welt erneut von Kriegen, gar einem Dritten Weltkrieg, zu raunen beginnt, macht den „Untergang des Abendlandes“ zu mehr als einer literarischen Erregungsprosa. Gewiss, es wäre intellektueller Hasard, das Ende der Parteiendemokratie westlichen Stils zu „prophezeien“. Dennoch täte ein geschärftes Bewusstsein dafür not, dass unser Weg mit antizivilisatorischen Affekten gepflastert ist. Und so könnten aus Möchtegern-Cäsaren am Ende echte werden ...