Es gibt Tage, da ist ein Bussi mehr als nur ein Bussi, und einer dieser Tage war vorige Woche. Denn was auf den ersten Blick ein ganz normaler Schmatzer zwischen zwei jungen Menschen zu sein schien, ist am vergangenen Samstag im Linzer Design Center dann doch viel mehr gewesen: Es war ein perfekt inszeniertes Schauspiel vor zig Fotografen und Kameraleuten, vor Hunderten ÖVP-Delegierten, vor Dutzenden Journalisten und letztlich vor ganz Österreich. Sebastian Kurz, bisher extrem zurückhaltend in Bezug auf sein Privatleben, wollte mittels Kusses kurz vor seiner Kür zum mächtigsten ÖVP-Chef aller Zeiten eines klarstellen: Er, der durch harte Ansagen zu Islam, Asyl und Migration Aufgefallene, hat auch eine weiche Seite, busselt seine Freundin wie jeder andere auch.

Damit zog der ÖVP-Obmann gewissermaßen nach: Sein Wahlkampfkontrahent, SPÖ-Chef Christian Kern, sorgte nämlich schon vor Wochen für Aufsehen, als er ein älteres Foto von sich, seiner Frau und seiner neugeborenen Tochter aus dem Krankenhaus auf Facebook publizierte - in einem Video, das gespickt mit Kinderfotos seine Simmeringer Wurzeln ins Bild rückt. Der dritte Kämpfer um das Kanzleramt, Heinz-Christian Strache, lässt sich in derlei Gefilden ohnehin nicht lumpen: In „Frühstück bei mir“ auf Ö 3 plauderte der FPÖ-Chef unbekümmert über seine Ehe mit der 28-jährigen Philippa - die er medial begleitet letzten Herbst geehelicht hatte. Selbst Grünen-Frontfrau Ulrike Lunacek erzählte jüngst äußerst detailreich im Radio rund einer Million Zuhörer, wie sie sich vor Jahren in ihre peruanische Lebensgefährtin verliebt hat.

Es menschelt

Kurzum: Man weiß so einiges über die Kandidaten, die am 15. Oktober zur Wahl stehen. Doch warum erzählen sie es uns? „Schlicht und einfach“, erklärt Politikberater Thomas Hofer, „weil es dagegen hilft, distanziert und unmenschlich zu wirken.“ Zudem erreiche man mit Geschichten privater Natur auch ein eher unpolitisches Publikum, das mangels Interesses an politischen Botschaften sonst nur schwer zu erwischen wäre. Nicht zuletzt, und dies werde laut dem Experten auch im konkreten Fall sichtbar, kann man als Politiker mit Ausflügen ins Private an seinem inhaltlichen Image feilen: Kern etwa inszeniert sich als fürsorglicher Familienvater, weil er zeigen wolle, dass er im Vergleich zu Kurz bereits Kinder großgezogen habe und deshalb auch als Kanzler verantwortungsbewusst(-er) sei. Das Kurz-Bussi, so Hofer, habe dann gezeigt, dass sich Kurz auf das Duell eingelassen hat - und damit schmückte er letztlich Titelseiten.

Neu ist das alles nicht. Wer ein bisschen Zeitgeschichte lernt, wird relativ rasch auf Fotos von Bruno Kreisky stoßen, die der einstige Kanzler den Zeitungsredaktionen aus dem Mallorca-Urlaub hat zukommen lassen. Unvergessen bleibt auch die Beichte von Altpräsident Thomas Klestil im Boulevardmagazin „News“, dass seine Ehe gescheitert sei. Über das Private ins Beliebtheitsaus manövrierte sich auch der international umstrittene, aber zu Hause durchaus gemochte Ex-Finanzminister Griechenlands, Yanis Varoufakis: Einem französischen Promi-Magazin zeigte er, die linke Galionsfigur, sein Penthouse in bester Athener Lage - was nicht nur in Griechenland missfiel.

Liebestrunken

Noch härter traf es Rudolf Scharping: Der ehemalige SPD-Chef, Verteidigungsminister und Kanzlerkandidat, brachte sich mit selbst ausgespielten Privatfotos gar um den Job. Während in der Heimat gerade eine heikle Debatte um einen deutschen Auslandseinsatz schwelte, ließ sich der Politiker um die Jahrtausendwende liebestrunken mit neuer (und sehr junger) Lebensgefährtin beim Baden auf Mallorca ablichten - später hieß es, dass sein Rauswurf letztendlich vor allem damit zu tun hatte. Nicht von einem Aufschrei begleitet, aber auch sehr privat (weil lediglich von einer äußerst knappen Badehose bedeckt) zeigte sich der einstige FPÖ-Chef Norbert Steger in einem ORF-Sommergespräch vom Pool aus. Ex-Kanzler Viktor Klima machte unterdessen seinen kaukasischen Hirtenhund „Grolli“ durch laufende Inszenierung berühmt. Die Folge: Grolli amtierte jahrelang als „First Dog“, wie man nicht nur Boulevardmedien der späten 90er entnimmt.

Was für Politiker also im besten Fall ein Mehr an Authentizität, im schlimmsten ein Karriereende bringt, wird von Experten per se keineswegs kritisch beäugt: Fritz Plasser etwa, Politikwissenschaftler und jahrzehntelanger Wahlkampfbeobachter, findet „ein gewisses Maß an Privatheit schon wichtig“. Gesellschaftlich gesehen könne dies nämlich das Interesse an Politik verstärken, erklärt der Experte. Mit anderen Worten: Wer sich mit einem Familienfoto des Kanzlers beschäftigt, streife irgendwann auch an „echter“ Politik an. „Dosierte Einblicke ins Privatleben“, sagt Plasser, „ergänzen Politiker zudem um interessante Facetten.“ Nicht zuletzt seien sie „häufig sehr unterhaltsam“ - weshalb die positiven Aspekte des Phänomens dem Experten zufolge „auf jeden Fall überwiegen“. Nachsatz: „Solange es nicht zu viel des Guten ist.“

Überinszeniert

Wann aber ist es zu viel? „Wenn es überinszeniert wirkt“, sagt Plasser, „wenn die Kinder ins Spiel gebracht werden“, meint Hofer. Die Grenzen beider Experten wurden im vergangenen Präsidentschaftswahlkampf von FPÖ-Kandidat Norbert Hofer im Zuge einer Homestory mit einem Online-TV-Sender überschritten: Eine Fernsehdame durchs Eigenheim im Burgenland führend, gaben die Hofers dem Kamerateam Einblick in das Kinderzimmer von Tochter Anni - mitsamt der Information, wie sehr diese gerade in ihren neuen Freund Maxi verliebt sei. „Das war definitiv über der Grenze“, sagt Politikberater Hofer.

Denn genau hier liege auch die Brisanz in der „Gratwanderung“, Privates zu veröffentlichen: „Das kann einem um die Ohren fliegen“, so der Politikberater. Schließlich wurde die Tochter damit vom Kandidaten selbst für Medien freigegeben, ein Fehltritt von ihr wäre dann auch ein öffentliches Thema, erklärt er. Die Tür ins Private stoßen Politiker in Österreich nämlich immer noch selbst auf, klassische Medien rennen sie selten ein. So bleiben die meisten Gerüchte um handelnde Politiker zumeist genau das: Gerüchte.

Im Vergleich zu anderen Ländern - man denke nur an die britische Yellow Press - werde in der heimischen Berichterstattung nämlich weitestgehend Rücksicht auf die Privatsphäre von Politikern genommen, schildert Hofer. Bei Klestil etwa hätte sich die Affäre mit seiner Mitarbeiterin und späteren Ehefrau Margot Löffler längst nicht so drastisch ausgewirkt, hätte er zuvor nicht seine Familie so stark ins Rampenlicht gerückt. „Also würde ich Politikern davon abraten, für kurzfristigen Sympathiegewinn zu viele Auszüge aus dem Privaten zu liefern“, so Hofer. Bisher war dies im Wahlkampf übrigens nicht der Fall, laut Hofer fand das Gros „in richtiger Dosis“ statt.

Allein, die Versuchung steigt stetig. Denn gerade soziale Medien wie Facebook - die in diesem Wahlkampf wichtiger denn je sind - reizen Politiker an, sich noch menschlicher, noch privater zu zeigen. Letztlich trage auch eine emotionalisierte Wahlkampfdebatte wie die heurige dazu bei, noch mehr Privates herzuzeigen, sagt Hofer. Kurz: Die Bussi-Chancen stehen gut.