Das hat es in der Geschichte des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) noch nie gegeben. Heute um 8.30 Uhr früh traten die 14 Höchstrichter zusammen, um in einer auf vier Tage anberaumten Marathonverhandlung mehr als 90 Zeugen öffentlich zu befragen. Warum sich das Gremium unter der Leitung von Präsident Gerhart Holzinger zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen hat, liegt auf der Hand: Am 6. Juli müssen die Richter eine folgenschwere Entscheidung fällen – nämlich, ob die Stichwahl vom 22. Mai wiederholt wird oder nicht. Alexander Van der Bellen lag nach Auszählung der Briefwahl um 30.863 Stimmen als Erster vor Norbert Hofer.

Die Zeugen kommen vorwiegend aus Kärnten, der Steiermark und Tirol. Für heute sind die Mitglieder der Bezirkswahlbehörden von Südoststeiermark, Villach-Land, Villach-Stadt sowie Innsbruck-Land, Kitzbühel, Schwaz geladen, in den nächsten Tagen sind unter anderem die Bezirke Hermagor, Wolfsberg, Liezen, Graz-Umgebung, Leibnitz und Völkermarkt an der Reihe.
Der 152-seitigen Anfechtungsschrift des freiheitlichen Anwalts Dieter Böhmdorfer ist zu entnehmen, dass die beschuldigten Bezirkswahlbehörden nicht mit der nötigen Sorgfalt die Briefstimmen ausgezählt haben. Laut Böhmdorfer wurden über 573.000 Wahlkarten vorzeitig sortiert, in 109.000 Fällen die Stimmzettel vorzeitig den Kuverts entnommen und über 58.000 Briefwahlstimmen von Unzuständigen ausgezählt. Die Freiheitlichen erheben in keinem Absatz den Vorwurf des Wahlbetrugs, sondern meinen, durch Schlampereien in den Bezirkshauptmannschaften wurde einer „möglichen Manipulation“ Tür und Tor geöffnet.

Beisitzer angezeigt

Vorgeladen wurden vor allem die Wahlleiter und die freiheitlichen Beisitzer. Letztere müssen einen heiklen Offenbarungseid leisten. Zunächst hatten sie mittels Unterschrift unter das Protokoll den ordnungsgemäßen Ablauf der Auszählung bestätigt, erst in – von der eigenen Partei FPÖ – eingeforderten eidesstattlichen Erklärungen wurden Unregelmäßigkeiten benannt. In der Zwischenzeit hat das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung Anzeige wegen „falscher Beurkundung und Beglaubigung im Amt“ erstattet, was die heute Früh beginnende Verhandlung in ungeahnte Schwierigkeiten stürzen könnte: Juristen schließen nicht aus, dass sich alle freiheitlichen Besitzer der Aussage entschlagen könnten, um sich für ein späteres Verfahren nicht selbst zu belasten.

Rechtzeitig vor der heutigen Verhandlung haben nun Van der Bellens Anwälte in einer 43-seitigen Stellungnahme, die der Kleinen Zeitung vorliegt, ihre Version der Dinge dargestellt. In der Expertise räumt Anwältin Maria Windhager ein, dass die Regeln, nach denen eine Wahl durchzuführen ist, „in möglicherweise bis zu 17 Bezirkswahlbehörden . . . falsch verstanden oder unrichtig ausgelegt“ wurden. Dies habe aber auf das Ergebnis der Wahl an sich „keinerlei Einfluss“.
Van der Bellens Anwältin weist darauf hin, dass sich selbst in der Anfechtungsschrift der FPÖ „kein einziger konkreter Hinweis“ finde, wonach nur eine einzige Stimme vorsätzlich falsch zugeordnet worden sei. Alle vorliegenden Fakten sprächen dafür, dass der Wille der Wähler „korrekt abgebildet“ worden sei, heißt es in Van der Bellens Team.

Beigefarbener Wahlzettel

Um das von den Freiheitlichen in die Welt gesetzte Szenario einer möglichen Manipulation zu entkräften, fordern die Grünen eine neuerliche Auszählung der Briefkarten in 17 Bezirken, darunter Villach-Stadt, Villach-Land, Leibnitz, Südoststeiermark, Graz-Umgebung, Hermagor, Wolfsberg, Liezen. Vor allem sollten im Zuge der Auszählung die einzelnen Stimmkarten penibel geprüft werden. Wegen der besonderen Beschaffenheit der beigefarbenen, maschinell gefalteten, amtlichen Stimmzettel sei, so die argumentative Stoßrichtung, ein großflächiger Wahlbetrug (durch Kopieren der amtlichen Stimmzettel) nicht möglich.

Am heute beginnenden Sitzungsmarathon nehmen weder Van der Bellen noch Hofer oder FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der die Wahlanfechtung angezettelt hatte, teil. Die beiden Kandidaten sind lediglich durch ihre Anwälte Böhmdorfer und Windhager vertreten.