Am 30. April 1945 erschoss sich Adolf Hitler im Bunker der Reichskanzlei in Berlin. An diesem 30. April wurde auf ausdrücklichen Wunsch der sowjetischen Besatzungsmacht in Wien der Spielbetrieb am Burgtheater wieder aufgenommen: mit "Sappho" von Franz Grillparzer. Weil das Burgtheater zerstört war, musste ins Varietétheater "Ronacher" ausgewichen werden. Nach 10 Minuten wurde die Vorstellung unterbrochen: Der sowjetische Marschall Tolbuchin hatte sich verspätet. So wurde seinetwegen noch einmal von vorne begonnen. Eine Szene von beeindruckender Symbolik vor der Kulisse einer Stadt in Trümmern mit der Staatsoper und dem Stephansdom als Brandruinen.

Am 27. April 1945 hatte die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner die Wiederherstellung der Republik Österreich proklamiert. Artikel I lautete: "Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten." Im Artikel II hieß es: "Der im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig."

Renner schreibt Stalin

So nüchtern wurde das Ende des auf tausend Jahre veranschlagten Hitler-Reiches in der einstigen "Ostmark" verkündet. Am 8. Mai kapitulierte Deutschland.

Die Vorgeschichte der provisorischen Regierung Renner spielte sich zwischen Karl Renner und Josef Stalin ab. Karl Renner war damals 74 Jahre alt und lebte zu Kriegsende in Gloggnitz. Seine Berufung zum provisorischen Regierungschef erfolgte auf Stalins Weisung. Der hatte den Exponenten des rechten Flügels der österreichischen Sozialdemokratie bereits suchen lassen.

In einem Brief an den "Sehr geehrten Genossen" Stalin vom 15. April 1945 biederte sich Renner in einer raffinierten Mischung aus Unterwürfigkeit, Selbstbewusstsein und kalkulierter Schmeichelei an. Er rühmte sich persönlicher Kontakte mit russischen "Vorkämpfern aus der Frühzeit der Bewegung", wie Lenin und Trotzki, und dankte der Roten Armee und "deren ruhmbedeckten Obersten Befehlshaber", dass ihm nun die volle Handlungsfreiheit wiedergegeben worden sei, die er "seit 1934, während der Herrschaft des Dollfuß-und Hitlerfaschismus, schmerzlich entbehren musste."

Weil Österreich bei der kommenden Neuordnung Europas "hilflos vor den Schranken der Weltmächte" stehen werde, bat der einstige erste Kanzler der Ersten Republik den Generalissimus, "Österreich wohlwollend zu gedenken und uns, soweit es die tragischen Umstände gestatten, in Ihren mächtigen Schutz zu nehmen." Gleichzeitig verweist er auf eine drohende Hungersnot, Seuchen und mögliche Gebietsverluste. Der Westen kenne zudem Österreichs Verhältnisse zu wenig "und bringt uns nicht genug Interesse entgegen, um uns die Voraussetzung der Selbstständigkeit zu sichern."

Stalin sicherte dem neuen "Staatskanzler von Österreich" zu, dass dessen "Sorge für die Unabhängigkeit, Gänzlichkeit und das Wohlergehen Österreichs auch meine Sorge sind."

Bei der "Gänzlichkeit" ging es vor allem um jugoslawische Gebietsforderungen in Kärnten und in der Steiermark. Partisaneneinheiten in der Stärke von 12.000 bis 20.000 Mann streiften vom 6. bis 25. Mai durch Kärnten. "Wo sie hinkamen, machten sie Besatzungsrechte und das Recht des Siegers geltend", schreibt der Historiker Manfried Rauchensteiner.

In der Zeit vom 3. bis 12. Mai 1945 formierten sich in den österreichischen Bundesländern die Landesregierungen. SPÖ, ÖVP und Gewerkschaftsbund waren bereits Mitte April gegründet worden und die neue Wiener Stadtverwaltung unter Bürgermeister Theodor Körner gab es schon seit 24. April. Am 15. Mai nahmen in ganz Österreich die Bezirkshauptmannschaften ihre Arbeit wieder auf. Die provisorische Regierung hatte indes Beschlüsse über das Staatswappen, die Staatsfarben, Staatssiegel sowie über das Verbot der NSDAP gefasst. Nur: Sie wurde als Regierung von den übrigen Besatzungsmächten gar nicht anerkannt - und zunächst auch nicht von den Vertretungen der Bundesländer. Amerikaner, Briten und Franzosen waren misstrauisch: Sie fürchteten eine Unterwanderung Österreichs durch den Sowjetkommunismus, hatten aber selbst noch keine klaren Vorstellungen, wie es mit Österreich weitergehen sollte. Und in den Bundesländern war man über die Absichten der Regierung Renner wenig informiert: Es gab kaum Post- oder Telefonverkehr mit Wien. Um zu Informationen zu kommen, mussten die Grenzen der Besatzungszonen per Kurier überwunden werden. Aber eine solche Aktion konnte von Wien nach Tirol bis zu 17 Tage dauern.

Gefühl der Solidarität

Karl Renner, der von Stalin offensichtlich als willfähriges Instrument seiner Interessen unterschätzt worden war, hatte zwei vorrangige Ziele: Einigung des Landes und Nationalratswahlen. Die Einigung gelang ihm bei der Länderkonferenz in Wien vom 24. bis 26 September: trotz des hinhaltenden Widerstandes der Engländer im damals allmächtigen Alliierten Rat der Besatzer.

Bei dieser Länderkonferenz sprach der oberösterreichische Landeshauptmann Heinrich Gleißner das aus, was alle bewegte: "Wir hatten das Gefühl, heimgekommen zu sein."

Bei den Wahlen am 25. November 1945 errang die ÖVP die absolute Mehrheit (85 Mandate) und brachte die zögernde SPÖ (76 Mandate) dazu, sich an der Regierung zu beteiligen. Die Kommunisten erhielten nur vier Mandate. Das beruhigte die Westmächte. In diesen Tagen der Not, des Elends und der politischen Ohnmacht gab es die Hoffnung auf ein neues Österreich. Persönliche Initiative, Mut und Hilfsbereitschaft förderten ein Gefühl der Solidarität. Damals, vor 65 Jahren.