"Krise" ist das Unwort unserer Tage. Das inflationär gebrauchte Wort verschleiert mehr, als es erhellt. Kausalitäten werden ausgeblendet, Gewichtungen fallen unter den Tisch, die Einordnung von aktuellen Problemlagen in historische Zusammenhänge geht verloren. So ist es kein Wunder, dass die Krisenschlagzeilen der letzten Jahre auch den Blick auf etwas verstellt haben, was jüngeren Österreichern meist erst bewusst wird, wenn sie die Geschichtsbücher studieren: die beinahe unglaubliche Erfolgsgeschichte Österreichs nach 1945, der Aufstieg von einem Armenhaus zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt.

Wer am Ende des Zweiten Weltkriegs durch Wien streifte, sah eine Stadt in Trümmern, hungernde Menschen, verzweifelte Gesichter, aber auch Hand anlegende Trümmerfrauen. Trotz der vielen Opfer des Krieges, seiner gewaltigen Zerstörungen und der Belastungen durch die folgende zehnjährige Besatzung, steht Österreich heute als ein Land da, das in vielen Wirtschaftsvergleichen hervorragende Weltpositionen einnimmt. Beim Wohlstand sind wir weltweit die Nummer elf, in Europa sogar die Nummer drei. Die Verteilung dieses Wohlstands ist, nimmt man den Gini-Index als Maßstab, eine der ausgeglichensten. Wien ist unter den Millionenstädten weltweit eine mit der höchsten Lebensqualität geworden.

Nach einem Knick in Folge der Wirtschaftskrise haben die Exporte im Jahr 2012 mit 123,5 Milliarden Euro bereits wieder einen historischen Spitzenwert erreicht. Seit 2002 erzielt das Land durchgängig Leistungsbilanzüberschüsse, in Summe über 70 Milliarden Euro. Im Vergleich mit anderen starken Volkswirtschaften des Kontinents konnten wir uns in den letzten Jahren überdurchschnittlich gut behaupten.

Doch das Blatt hat sich in den letzten Jahren gewendet. Ablesbar ist das am Abrutschen in zahlreichen internationalen Standortvergleichen. So ist Österreich in der aktuellen Ausgabe des wichtigsten EU-Innovationsrankings auf den neunten Platz abgerutscht, 2009 hatten wir noch Platz sechs inne. Im Global Innovation Index sind wir zuletzt auf Platz 23 gelandet - nach Rang 15 im Jahr 2009. Im World Competitiveness Report des Schweizer International Institute for Management Development (IMD) rangiert Österreich ebenfalls auf Platz 23, womit unser Land innerhalb von fünf Jahren um zwölf Plätze nach hinten gefallen ist. Im Kapitel "Regierungseffizienz" dieses Standortvergleichs hat sich unsere Position im letzten Jahrzehnt dramatisch verschlechtert. Was die Gefahr betrifft, dass Forschungs- und Entwicklungszentren abwandern könnten, wird Österreich vom IMD besonders kritisch eingeschätzt. Bei aller angebrachten Skepsis gegenüber Rankings aller Art: Diese Zahlen müssen uns alarmieren.

Schon in den Siebzigern wurden die ersten Schattenseiten der Erfolgsstory sichtbar. Der Wohlfahrtsstaat, eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, war zu geräumig geworden, seine Treffsicherheit verschlechterte sich zusehends. Die "Hackler-Regelung" im Pensionsrecht ist ein besonders illustres Beispiel dafür: Sie galt praktisch nie für jene Berufsgruppen, deren Erwerbsarbeit tatsächlich schweren körperlichen Einsatz fordert, sondern ist zu einem Beamtenprivileg geworden. Unsere Subventionsquote ist mit 5,4 Prozent doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt, mit 34 Prozent haben wir die höchste Transferquote weltweit. Vieles, was in den letzten Jahrzehnten zur angenehmen Selbstverständlichkeit geworden ist, muss deshalb gründlich hinterfragt werden: Eine ewige Leibrente kann es nicht geben.

Im Jahr 1956, als das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) in Kraft trat, betrug die Sozialquote - das sind alle Sozialausgaben im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung - 16 Prozent. 1970 lag dieser Wert bei 21 Prozent, 1990 bei 26 Prozent und 2010 bei über 30 Prozent. Umso unverständlicher ist, dass in unserem Land noch immer Armut zu beklagen ist. Das lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass unser Sozialsystem vielfach ineffizient ist und die wirklich Bedürftigen nicht oder nur ungenügend erfasst, sich aber zugleich gegenüber Missbrauch als allzu kulant erweist.

Besonders ins Auge stechen die exorbitant gestiegenen Kosten für alle möglichen Formen von Frühpensionierungen. Vor 30 Jahren hatten wir 50.000 Frühpensionisten in Österreich, jetzt sind es 650.000 - unsere gern gefeierten niedrigen Arbeitslosigkeitszahlen sehen unter diesem Aspekt deutlich weniger feierlich aus.

Die Lebenserwartung ist seit Einführung des ASVG um 20 Jahre gestiegen, aber das effektive Pensionsantrittsalter ist von 61 Jahren Mitte der siebziger Jahre auf 58 Jahre zurückgegangen. Mit freiem Auge ist erkennbar, dass sich da eine Lücke auftut, die nicht finanzierbar ist. Die junge Generation, deren Geburtenanzahl von 135.000 Mitte der sechziger Jahre auf 78.000 zurückgegangen ist, wird diese Aufgabe nicht bewältigen können, wenn das System nicht grundlegend umgebaut wird.

Nicht nur national kommen wir mit dem Wohlfahrtsstaat an die Grenzen oder haben sie schon überschritten: In der EU werden 25 Prozent der Weltwirtschaftsleistung generiert, aber 50 Prozent der Sozialausgaben von knapp über sieben Prozent der Weltbevölkerung konsumiert. Das wirft nicht nur ein gewaltiges Problem im weltweiten Wettbewerb der Systeme auf, für das die Politiker noch keine Lösung haben. Es schafft auch gewaltige Ungleichheiten zwischen riesigen Bevölkerungsgruppen innerhalb Europas: u. a. zwischen den Beschäftigten im öffentlichen Bereich und dem Bereich, der im Wettbewerb steht; zwischen der Generation, die einen immer größeren Teil der Sozialausgaben auf Pump konsumiert, und jener Generation, die den Großteil der Schulden abbauen muss. Generationengerechtigkeit sieht aber anders aus. Ein Vertrag zwischen den Generationen muss anders gestaltet werden, auch um den sozialen Frieden in Europa zu wahren.

Wenn wir vom erreichten Wohlstand sprechen, sollten wir uns noch einmal die Fakten in Erinnerung rufen: Die Wochenarbeitszeit verringerte sich in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg von 48 auf 38 Stunden, der Mindesturlaub

erhöhte sich von zwei auf fünf Wochen. 1955 gab es 150.000 PKW, 500.000 Festnetzanschlüsse - davon 100.000 Viertelanschlüsse - und durchschnittlich 105 Euro auf dem Sparbuch eines jeden Österreichers. Heute beträgt der Fahrzeugbestand 4,6 Millionen Stück. Statistisch gesehen besitzt jeder Österreicher zumindest ein Mobiltelefon. Jeder Bewohner des Landes, vom Kleinkind bis zum Greis, verfügt im Durchschnitt über 19.000 Euro Sparguthaben.

Nicht vergessen sollten wir vor allem, dass das einmal Erreichte keine Ansprüche für die Zukunft begründen kann: Die eindrucksvollen Eckdaten sind das Ergebnis eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufstiegs in den vergangenen Jahrzehnten. Garantien für die kommenden Jahrzehnte sind in ihnen nicht enthalten. Die Zukunft muss stets aufs Neue erarbeitet werden.

Das gilt auch für einen zweiten Bereich, dem neben der dringenden Reparatur des Wohlfahrtsstaates politisch viel zu lange viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: der Bildung und Innovationsfähigkeit des Landes. Nach einem raschen Aufholprozess in den Jahren davor lässt seit 2008 die Forschungsdynamik nach, ablesbar am stagnierenden Wachstum der Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Die EU-Kommission wie die OECD und der Internationale Währungsfonds haben in einer unmissverständlichen und beschämenden Schelte die mangelnde Effizienz unseres Bildungssystems angeprangert.

Die Klagen aus der Wirtschaft über den zunehmenden Fachkräftemangel und das Manko, auf immer weniger ausbildungsfähige Lehrlinge zurückgreifen zu können, spiegeln diese Versäumnisse wider. Gleiches gilt für die Universitäten und vor allem naturwissenschaftlich-technischen Fächer. Daher ist die Reform unseres gesamten Bildungsbogens überfällig: vom Kindergarten über die Schulen und die berufliche Ausbildung bis hin zu den Universitäten und der Erwachsenenbildung. Die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Arbeitsleben haben sich in derart hohem Tempo verändert, dass das Festhalten an alten Strukturen und Inhalten ein Verrat an der Zukunftsfähigkeit ist.

Den Ausweg aus diesem Dilemma kann nur eine Politik schaffen, die im Bereich des Sozialstaats und der öffentlichen Verwaltung auf Einsparungen setzt - vor allem durch höhere Effizienz -, zugleich aber in Bildung, Forschung, Wissenschaft investiert.

Zur großen Bedrohung unseres Wohlstands zählt auch die Schieflage unserer öffentlichen Haushalte. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass die Staatsschulden erst seit dem Fall der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 und dem Beinahe-Zusammenbruch der Versicherungsgruppe AIG und den daraufhin nötigen Bankenhilfs- sowie Konjunkturstützungspaketen entstanden sind. Die Wahrheit ist: Nach diesen schockartigen Ereignissen hat sich lediglich die Bereitschaft der Geldgeber geändert, die Schulden zu refinanzieren. Die Staatsschulden, aber auch die Schulden der privaten Haushalte waren oft schon davor zu hoch gewesen oder wurden für den falschen Zweck verwendet - nur war es breiter Konsens unter den Investoren gewesen, dass diese Schulden als sicher gelten. Dieses Vertrauen ist in den Jahren ab 2008 nachhaltig erschüttert worden. Eine Griechenlandhilfe zur rechten Zeit hätte eine Ausweitung dieser Vertrauenskrise im Übrigen verhindert.

Am Beispiel Österreichs lässt sich die Entwicklung belegen: Zwischen 1980 und 1995 stiegen die Staatsschulden von 76 Milliarden auf 119 Milliarden Euro an, das entspricht einem relativen Anstieg von 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 68 Prozent. Im Jahrzehnt darauf kam es zu einer leichten Absenkung, die teuer erkauft war: durch Ausgliederungen, Einmaleffekte, Verscherbelung von Staatseigentum und einer Rekordabgabenquote von über 44 Prozent. Darin sind die ausgelagerten Schulden noch nicht einmal enthalten. Erst 2009 überstieg der Gesamtschuldenstand mit 69 Prozent des BIP wieder die Marke von Mitte der neunziger Jahre. 2012 wurde offiziell ein Höchststand von 75 Prozent erreicht: in absoluten Zahlen 231 Milliarden Euro. Die tatsächlichen Staatsschulden sind als Folge der Ausgliederung von Schulden, "Creative Accounting" bzw. mangelnder Transparenz deutlich höher.

Zum Vergleich: Schweden hat es durch konsequente Strukturreformen ab Mitte der neunziger Jahre geschafft, diesen Wert auf unter 40 Prozent zu drücken und damit Luft für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Die Schweiz liegt aktuell bei 47 Prozent. Beide Länder haben sich im angesprochenen IMD-Standortvergleich soeben auf die Ränge vier und zwei hochgearbeitet. Wir sollten uns diese europäischen Champions zum Vorbild nehmen, um das Staatsgeld weniger für Zinsen als für Innovation ausgeben zu können.

Über die Jahrhunderte ist in unserem Land eine weit verbreitete und tief sitzende "Es wird scho werd'n"- und Untertanenmentalität entstanden. Durch katholisch-monarchische Traditionen und einen verdrängten Liberalismus sind die Österreicher wenig geneigt, Reformen einzufordern - und schon gar nicht, darüber öffentlich polarisierende Debatten zu führen. Aus der Erfahrung mit missglückten Revolutionen wurde der kollektive Schluss gezogen, dass es besser ist, sich nicht zu viel zu bewegen und lieber darauf zu hoffen, dass "von oben" zwischendurch auch immer wieder etwas Gutes kommt.

Festgehalten hat man dagegen stets an dem, was Kontinuität und Sicherheit versprach; die Begeisterung fürs Barocke und die Anbetung des Landesfürstentums sind Ausdruck dieser Grundkonservativität.

Solche Jahrhunderte zurückreichende Grundmuster des Landes und seiner Bewohner sind natürlich nicht schicksalhaft zu verstehen. Mentalitäten sind nicht unabänderlich. Und die Geschichte bestimmt nicht deterministisch über das Hier und Jetzt. Es gab und gibt immer wieder ein Aufflackern jenes Geistes, der von Selbstbewusstsein, Entschlossenheit und dem Mut geprägt war, in der Welt aktiv Zeichen zu setzen. Der Fleiß und die Kreativität unseres Volkes sind eine gute Grundlage, um auch kreativ mit so mancher Bürde aus der Vergangenheit umzugehen.

Im November 2012 erschien im renommierten US-Magazin Foreign Policy ein Artikel mit dem Titel The Austrian Miracle. Darin wurden die niedrige Arbeitslosigkeit, der wettbewerbsfähige Produktionssektor und die hohen Durchschnitts-Haushaltseinkommen des Alpenlandes inmitten der europäischen Krise gerühmt.

Man sollte sich diesen Blickvon außen auf die Erfolgsstory Österreich in Erinnerung rufen und gleichzeitig eines bedenken: Vielfach zehren wir noch von Strukturmaßnahmen, die vor Jahrzehnten gesetzt wurden. Jene Schritte, die danach nicht mehr gesetzt wurden, müssen jetzt schnell nachgeholt werden, um im globalen Wettbewerb weiter bestehen zu können. Die in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Lohnstückkosten sollten Warnzeichen genug sein. Der Problemaufriss kann deshalb nicht an den nationalen Grenzen Halt machen.

Wenn die Weltwirtschaft abkühlt und die Eurozone schwächelt, was ja schon der Fall ist, dann drohen uns japanische Verhältnisse. Österreich ist bislang von der Krise zwar nicht verschont geblieben, aber weniger hart getroffen worden, weil das Land seine Reserven angegriffen bzw. auf diese - wie bei den Pensionen - vorgegriffen hat. Diese Hypothek wird eher in kurzer als in langer Frist schlagend werden.

Sicher geht es uns besser als den meisten anderen. Aber das ist keine Erbpacht, und es geht uns auch nicht so gut, um in Selbstzufriedenheit und beschönigende Selbstgefälligkeit zu verfallen. Wir müssen uns auf eine schwächere Weltwirtschaft und bei uns selbst auf ein geringeres Wachstum einstellen. Die schwächelnden öffentlichen Haushalte werden effizienter werden und beträchtliche Ausgaben streichen müssen. Das Volumen dafür beträgt, ohne die Leistungen des Sozialstaats schmerzhaft kürzen zu müssen, 20 Milliarden Euro, das sind sieben Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Damit könnten wir die Staatsschuld reduzieren und hätten Luft für Zukunftsinvestitionen.

Vergessen wir nicht: Wer vor dem II. Weltkrieg geboren ist, gehört zur ersten Generation, die zwar den Krieg und seine Folgen erlebt hat, aber danach ohne Unterbrechung in Frieden und Wohlstand gelebt hat. Dieses unermessliche Glück sollte Aufgabe und Verpflichtung sein, auch künftigen Generationen dieses Leben zu ermöglichen. Wichtig ist, dass wir Abschied vom Reich der Träume nehmen und uns im Reich der Realitäten einrichten.