Andrea Nahles versuchte nicht einmal, ihre Niedergeschlagenheit zu kaschieren. „Die Ergebnisse sind für die SPD extrem enttäuschend“, sagte die Parteichefin der deutschen Sozialdemokraten. Die Große Koalition in Berlin hat bei den Europawahlen massiv an Wählerzuspruch verloren, die SPD weit stärker als CDU und CSU. Mehr als elf Prozentpunkte ging es für den Juniorpartner in den Keller, während die Union „nur“ um acht abrutschte. Am Ende fand sich die SPD zum ersten Mal bei einer bundesweiten Wahl hinter den Grünen, die mit einem Zuwachs von zwölf Prozentpunkten großer Gewinner wurden.

„Trotz alles Anstrengungen ist es uns nicht gelungen, das Ruder herumzureißen“, resümierte Nahles und verwies auf die schlechte Stimmungslage im Vorfeld. Im Willy-Brandt-Haus in Berlin machen seit Tagen Putschgerüchte die Runde. Treibende Kraft soll ausgerechnet Ex-Parteichef Martin Schulz sein. Sowohl die Personalie Nahles als auch die Koalition insgesamt dürfte nun mit oberster Priorität auf der Tagesordnung stehen. Der langjährige Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte sie auf, Verantwortung zu übernehmen. Es gehe nun um die Existenz der Partei. Die SPD hatte angekündigt, zur Halbzeit der Legislaturperiode 2019 einen Kassensturz zu machen, um über die Fortsetzung der Regierung zu entscheiden. Generalsekretär Lars Klingbeil warnte zwar vor Schnellschüssen, betonte aber: „Wir haben bei den Europawahlen eine Enttäuschung erlebt. Das wird nicht ohne Folgen bleiben.“

Bei CDU und CSU war die Stimmung eine Spur aufgehellter. Die Union sei mit dem Ziel angetreten, mit Abstand stärkste Partei zu werden, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer. Das Ziel sei erreicht worden, betonte die CDU-Vorsitzende und untermauerte den Anspruch, Manfred Weber müsse die Spitze der EU-Kommission übernehmen. Sie forderte von der SPD, weiterhin die Regierung zu unterstützen. Generalsekretär Paul Ziemiak zeigte sich zerknirschter als seine Parteichefin, eine Debatte über die GroKo will er dennoch nicht. „Ich finde, sie muss weitermachen. Deutschland braucht Stabilität.“ Auch Weber fühlte sich vom Ergebnis angespornt. „Die Union ist mit Abstand stärkste Partei geworden“, sagte der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei. Das gebe ihm jetzt ein starkes Mandat.

Union will sich neu aufstellen

Kramp-Karrenbauer wie auch CSU-Chef Markus Söder reagierten auf die starken Zugewinne der Grünen und kündigten an, den Klimaschutz in den Vordergrund stellen zu wollen. „Wir brauchen eine intensive Auseinandersetzung mit den Grünen“, forderte Bayerns Ministerpräsident Söder. Die CDU-Chefin räumte Fehler ein: „Alte Maßstäbe gelten nicht mehr. Wir müssen jünger, cooler, offener werden.“ Bei diesem Wahlkampf sei es vor allem um Klimaschutz gegangen, klassische Unionsthemen wie Sicherheit, Wohlstand und Frieden in der EU hätten nicht gezogen, sagte Kramp-Karrenbauer. Das zeigte sich auch bei der jüngsten Debatte über den Youtuber Rezo. Die Reaktion auf sein Video mit scharfer Kritik an der CDU offenbarte die eklatante Schwäche der Partei im Umgang mit den Neuen Medien.

Dies können die Grünen offensichtlich effektiver. Spitzenkandidatin Ska Keller sprach von einem „sensationellen Ergebnis“ und nahm Anlehnung an die Schülerprotestbewegung „Fridays for Future“. Sie sei „so froh, dass wir es geschafft haben, einen ,Sunday for Future‘ zu machen.“ Bei der Suche nach den Gründen für den Anstieg lohnt ein Blick auf die unter 30-Jährigen. Dort machte jeder Dritte sein Kreuz bei den Grünen. Bei den Erstwählern wurden sie mit 36 Prozent sogar stärkste Partei. Die CDU erhielt bei dieser Wählergruppe elf, die SPD nur sieben Prozent. Überrascht hat dort die Satirepartei „Die Partei“ des Ex-„Titanic“-Chefredakteurs Martin Sonneborn mit neun Prozent. Insgesamt holte seine Partei drei Sitze.

Neben den Grünen gehören die liberale FDP sowie die rechtspopulistische AfD zu den Gewinnern, die zwar zweistellig wird, aber hinter den eigenen Erwartungen zurückblieb. Parteichef Alexander Gauland führt dies auf die Ibiza-Affäre zurück. „Strache hat uns geschadet und möglicherweise mehr als der FPÖ selbst“, stellte er fest. Dennoch stehe man zum Partner in Wien. „Die FPÖ ist unsere Schwesterpartei.“ Strache hätte etwas Unentschuldbares getan, doch das werde man nicht auf die gesamte Partei beziehen.