Patrick Selman hat viel zu tun. Stilecht in einen marineblauen Seemannspullover und Wollhaube gewandet, steht er am Bug seines stolzen und sturmerprobten Segelbootes "Moon", das nach neuem Anstrich verlangt. Der 74 Jahre junge Segelmacher und Chef von "Gaff Sails" nimmt sich trotzdem Zeit und unterbricht die Arbeiten im Trockendock in der 21.000-Einwohner-Stadt Falmouth an der Südwestküste Englands. Über den Brexit, sein Geschäft und die Menschen in Cornwall will ich mit ihm sprechen. "Well let’s talk about these topics then, Thomas", sagt er mit wachem Blick und Grinsen unter dem schlohweißen Bart.

Selbstbestimmung als Devise

Direkt auf die (noch) amtierende britische Premierministerin Theresa May angesprochen ("What's her name again? Mary? No, Theresa"), verzieht er sein Gesicht: "Miss May ist nicht geeignet, um Premierministerin zu sein. Chaos! Angesichts der 'Brexit-Sache' bezweifle ich stark, ob dieses Kabinett uns überhaupt regieren kann." Mit dem politischen System in Europa könne er insgesamt wenig bis nichts anfangen. Für ihn ging und geht im Leben Selbstbestimmung über alles.

Patrick Selman, Segelfabrikant und politischer Querkopf, pocht auf Unabhängigkeit
Patrick Selman, Segelfabrikant und politischer Querkopf, pocht auf Unabhängigkeit © Thomas Golser



Für Selman gibt es an der Urne nur eine Option – er will morgen seine Stimme der "Brexit Party" von Nigel Farage geben: "Wir müssen handeln. Alles wurde doch inszeniert, um in der EU zu bleiben." So offen seine Ansichten zu vertreten, habe ihn Freundschaften gekostet, brummt er: "Nun, vielleicht waren das auch keine Freunde." Der Korne betont, sich sehr wohl als Europäer zu fühlen – so habe er z. B. auch deutsche Kunden. Durch DNA-Tests habe er gerade erfahren, dass er zu 27 Prozent finnisch sei, berichtet er stolz.



Schon bald wird klar: Mit dem kitschglacierten Zerrbild, das deutsche Schauspieler aus den hinteren Reihen in TV-Adaptionen von Rosamunde-Pilcher-Romanen zu vermitteln versuchen, hat Cornwall nicht viel zu tun. Es ist eine Region voll erdiger Menschen, eine etwa 3600 Quadratkilometer große Grafschaft von unverrückbarer, verzaubernder landschaftlicher Schönheit – und nicht zuletzt ein Gebiet mit massiven Strukturschwächen.

56,5 Prozent stimmten hier am 23. Juni 2016 für "Leave", also für einen (drei Jahre später noch immer nicht würdevoll umgesetzten) Austritt aus der Europäischen Union – auf ganz Großbritannien aufgerechnet waren es 51,9 Prozent. Und das, obwohl Brüssel der Region finanziell auf die Beine geholfen hat: Von 2000 bis 2018 erhielt Cornwall über eine Milliarde Euro aus dem EU-Fördertopf.

Cornwall: Atemberaubende Natur, aber auch Strukturschwächen und niedrige Durchschnittseinkommen
Cornwall: Atemberaubende Natur, aber auch Strukturschwächen und niedrige Durchschnittseinkommen © Thomas Golser



Wie geht das zusammen? Augenfällig ist: Die 536.000 Kornen sind aus speziellem Holz gedrechselt, leben im eigenen Takt – herzlich, liebenswert und traditionsverhaftet, aber auch rau und nicht sofort zugänglich. Einige von ihnen fühlen sich nicht einmal als Briten – und noch viel weniger als EU-Bürger. Man sieht viele kornische Banner, fallweise den Union Jack und das englische St.-Georgs-Kreuz – EU-Sterne muss man indes suchen. Vor nicht allzu langer Zeit hisste etwa Trago Mills, ein Diskonter in Falmouth, eine Europaflagge, die mit einem säuberlich aufgenähten roten Kreuz durchgestrichen war. Cornish Resistance – wenig subtil, aber nach dezenten Botschaften ist wenigen.

Einnahmequelle Meer

Dave Stevens lebt ebenfalls vom Meer – und das seit seinem 16. Lebensjahr. Der heute 45-Jährige ist politisch hochinteressiert und nimmt regelmäßig an EU-Debatten teil, betont aber, keiner Partei anzugehören. Im Hafen von Newlyn, das als "Capital of Fishing" von Cornwall gilt, belädt er zusammen mit drei Kollegen einen ganzen Sattelschlepper, nachdem er mit seinem Trawler nach vielen Stunden von der See zurückgekehrt ist. Unablässig wird die eisgekühlte Ware in roten Boxen aus dem Schiffsbauch gehoben.

Der politisch interessierte Fischer Dave Stevens bei seinem Broterwerb im Hafen von Newlyn
Der politisch interessierte Fischer Dave Stevens bei seinem Broterwerb im Hafen von Newlyn © Thomas Golser


Am Kommandostand legt Stevens dann vom Brummen der Dieselmotoren unterlegt seine Sicht der Dinge klar. Angesprochen auf die von der EU mitfinanzierten Projekte hält er entgegen: "Von einem Pfund, das wir zuvor eingezahlt haben, bekommen wir nur 30 Pence zurück. Wo erkennst du da etwas Gutes? Wir würden dieses Geld ganz anders einsetzen. Eine – allzu – simple Rechnung, die in Cornwall beharrlich gestellt wird, die Linie zwischen Eigen- und Starrsinn ist fein. Dass es etwa die Universität von Penryn, den Flughafen von Newquay und flinkes Breitbandinternet in dieser Form sonst nicht gäbe, lässt man kaum gelten.



"Eher nehmen wir wirtschaftliche Nachteile in Kauf, als dass wir Teil dieser EU bleiben und auf Unabhängigkeit verzichten wollen. Ich habe an Projekten in der EU-Kommission mitgearbeitet. Eine interessante Tätigkeit – doch politische Fortschritte zu erzielen, ist schwierig, weil man dort jeden zufriedenstellen will", sagt Stevens. Sein Unternehmen hole noch immer 31 verschiedene Arten aus dem Meer – das Problem seien die Vorgaben: "60 Prozent der Bestände in diesen Gewässern gehören zum Vereinigten Königreich, wir dürfen aber nur um die 20 Prozent fangen."



London hätte tapferer sein müssen, auch wenn dies einen harten Brexit bedeute. "Du kannst nicht auf Basis eines Ideals Politik betreiben und Probleme erst sehen, wenn sie da sind. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen, früher zu handeln." Ein zweites Votum lehnt er strikt ab, weil dies die Demokratie beschädigen würde. Der Punkt ohne Wiederkehr war für Stevens schon erreicht, als David Cameron "aus Brüssel mit nichts in den Händen zurückkam." Alles in allem ortet er aber keine Panik: "Keep calm and carry on", stärkt er sich zum Abschied selbst das Gemüt.

Leidige Brüssel-Vorschriften

Die leidige Endlosschleife namens Brexit – ähnlich sieht es Dylan Bean in St. Martin-in-Meneage: Ihm gehört "Kernowsashimi", ein Unternehmen für edle, von lokalen Fischern mit Bedacht gefangene Ware. Mit 20 Mitarbeitern beliefert er hochpreisige Lokale im Londoner Finanzdistrikt. Als europäisch agierender/kalkulierender Geschäftsmann habe er für "Stay" gestimmt. Als das Pendel dann Richtung "Exit" ausschlug, freute sich der Korne im Herzen, gibt er zu. Zuneigungsbekundungen gen Westminster sind aber auch bei ihm enden wollend: Als wir auf die aktuelle Vorstellung der Regierung zu reden kommen, zischt Bean ein "Disgusting!"

Unternehmer Dylan Bean setzt auf fairen Fischfang für hochpreisige Lokale in London und lokale Märkte und stöhnt unter den bürokratischen Vorgaben der EU
Unternehmer Dylan Bean setzt auf fairen Fischfang für hochpreisige Lokale in London und lokale Märkte und stöhnt unter den bürokratischen Vorgaben der EU © Thomas Golser



95 Prozent der Auflagen in seinem Business kämen von der EU, poltert er und deutet auf Pakete mit neuer Sicherheitsausrüstung: "Das alleine kostet mich 600 Pfund. Pro Boot!" Er habe den Luxus, seine Abnehmer ausschließlich in Großbritannien zu finden – zu 80 Prozent in der Gourmetszene, den Rest auf lokalen Fischmärkten. Bean erzählt von schottischen Fischern, die nur "den Kontinent" beliefern – und daher mit großer Mehrheit für den Verbleib im Staatenverbund stimmten. Das sei für ihn jedenfalls "nachvollziehbar".

Neue Impulse dringend gesucht

Einst hatten Zinn- und Kupferminen Cornwall steinreich gemacht, bis dann Anfang des 20. Jahrhunderts der – bislang – unumkehrbare Niedergang einsetzte. Fischerei und Tourismus vermögen die Schieflage nicht geradezurücken, die Probleme sind substanziell: 4,5 Millionen Urlauber, die jährlich in das mit einem 1000 Kilometer langen Küstenwanderweg gesegnete Gebiet kommen, ändern nichts daran, dass die Kornen mit bis zu vier Pfund weniger Stundenlohn als der nationale Schnitt auskommen müssen. Dazu ziehen die Lebenskosten kontinuierlich an. Eine Neuorientierung in Richtung alternative Energien, Schiffsbau und Landwirtschaft sollte her, so recht sprang der rostige Motor aber - noch - nicht an.

In Cadgwith, einem, für Krabbenfang bekannten, postkartentauglichen Ort auf der Lizard-Halbinsel, sicherte das Meer Generationen ihr moderates Auskommen. Simon Bradley, einst Polizist (und vieles mehr), zog aus London in das Nest. Auch er fängt mit seiner winzigen Barke "Shrimpy" für "Kernowsashimi" Fisch. Nebenbei ist der sympathische, mit sanftem Timbre bedächtig seine Worte auswählende Endvierziger Künstler.

Ex-Polizist, Fischer und Künstler Simon Bradley macht sich seine Gedanken über seine schöne Heimat und das Leben im Allgemeinen
Ex-Polizist, Fischer und Künstler Simon Bradley macht sich seine Gedanken über seine schöne Heimat und das Leben im Allgemeinen © Thomas Golser



Teile des Fangs verwendet er für Gyotaku, eine uralte japanische Technik, Fisch kunstvoll auf Papier zu "pausen". Er betont den unbeugbaren Zusammenhalt der Dorfbevölkerung, der den Menschen mehr Greifbares als Brüssel gebe. "Wir hätten wohl schon damals passen sollen", spricht er den EU-Beitritt des Vereinigten Königreichs 1973 an. Im kleinen, mit handverlesenem Seemannszeug dekorierten Studio kredenzt er schwarzen Tee mit Milch. Wer Rückbesinnung auf die Essenz suche, sei in Cornwall goldrichtig. "Escapologist" nannte ihn die BBC. Passend.

Nach dem Referendum wurden auch in Cornwall Stimmen laut, man sei fehlinformiert worden. Anlass für ein Umdenken in der Bevölkerung dürfte es heute trotzdem nicht geben. Tories und Labour gingen jüngst nach desaströsen Gesprächen erneut ergebnislos auseinander. Die erst im Jänner gegründete Brexit-Party ist in Umfragen bereits stärker als beide "Volksparteien" zusammen. Und der als polternder Geist bekannte Ex-Außenminister Boris Johnson wähnt sich indes bereits als Mays Nachfolger.

Und ja, so findet sich am Ende doch etwas, das London und Cornwall verbindet: Der Kurs bleibt ungewiss, der Kompass dreht weiter ratlose Kreise.