Herr Galli, ein Linker, der im vom Brexit gebeutelten vereinten Europa das Banner der Souveränität hochhält, das hat etwas. Das riecht nach Häresie. Sehen Sie sich selbst als Ketzer?
CARLO GALLI: Ich warte auf das Urteil der Heiligen Inquisition. Aber Spaß beiseite! Tatsächlich scheint es unter den politisch korrekt gebürsteten Mainstream-Eliten einen Imperativ zu geben: Verachtet die Souveränität, verspottet sie! Wer positiven Gebrauch von dem macht, was jahrhundertelang das Herz der Staatslehre war, gilt heute als Höhlenbewohner. Man bedenkt ihn mit einem mitleidigen Lächeln wie jemanden, der mit einem Münztelefon telefoniert, oder dämonisiert ihn als Faschisten. Souveränität wird als Tribalismus abgetan, als Nostalgie und Rassismus. Nach ihr zu streben, gilt als böse!

Was halten Sie dem entgegen?
GALLI: Die Souveränität ist eines der fundamentalen politischen Konzepte, auf denen unsere modernen Staaten gründen, und ist bis heute in vielen Verfassungen in Europa verankert. Wer das nicht begreift, versteht gar nichts! Die Souveränität ist als Idee sehr alt. In ihrer heutigen, demokratischen Form ist sie aber ein Kind des neuzeitlichen Rationalismus und der Französischen Revolution, die sie dem König genommen und dem Volk gegeben hat. Hobbes, Hume, Rousseau sprachen von ihr. Souveränität ist das Faktum, dass ein Volk politisches Subjekt sein will in der Geschichte, dass es selber über sich entscheiden, sich eine Ordnung geben will. "We the people" lautet der berühmte Anfang der amerikanischen Verfassung von 1787.



Dagegen ist schwer etwas einzuwenden. Warum ist Souveränität in Europa so verrufen?
GALLI: Weil sie bestimmten Interessen zuwiderläuft. Die wahren Feinde der Souveränität sind seit jeher universalistische Mächte, allen voran die Wirtschaft. Die Berufung des Kapitalismus ist global. Sie ist das, was wir Globalisierung nennen. Wenn ein Weltkonzern sich vor etwas fürchtet, so ist das eine politische Macht, die ihn hindert, zu tun, was er will. Und dann steht die Souveränität natürlich auch dem Bestreben entgegen, in Europa ein supranationales, politisches System zu errichten. Viele glauben ja, dass die Souveränität zugunsten der EU überwunden werden müsse. Aber die EU ist halt kein souveränes Subjekt.

Was ist sie dann?
GALLI: Nichts, die EU ist politisch ein Nichts. Das bekommen wir täglich vor Augen geführt, in Libyen, in Syrien. Europa ist auf der internationalen Bühne handlungsunfähig, weil es gar kein eigenständiger souveräner Akteur sein will. Die wahre Macht in der EU geht von den Mitgliedstaaten aus, von denen zwar einige für den Euro auf ihre Währungshoheit verzichtet, aber sich alle anderen zentralen souveränen Rechte bewahrt haben. All das Gerede von einem supranationalen Europa ist Lüge. Tatsächlich gibt es einen Tisch, an dem die Vertreter der einzelnen Staaten sitzen und verhandeln. Und der Stärkste gewinnt.

Wollen Sie damit sagen, die Europäer gaukeln sich etwas vor?
Kanzlerin Merkel macht sich keine Illusionen über eine europäische Souveränität. Sie weiß genau, dass Deutschland ein souveräner Staat ist, und handelt auch so. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vertritt die Auffassung, dass das Bauprinzip der EU die Subsidiarität ist unter Berücksichtigung der deutschen Verfassung. Das heißt im Klartext, die europäischen Institutionen sind in Berlin solange willkommen, wie sie Deutschland zugestehen, die Dinge am besten zu erledigen. Sobald sie aber Deutschland daran hindern, seinen Pflichten gegenüber sich selbst nachzukommen, gelten sie nichts. Dasselbe gilt für Frankreich. Wenn Frankreich an Europa denkt, denkt es an eine Union, an deren Schlüsselstellen Franzosen sitzen.

Allein kann selbst Frankreich in der Welt von heute kaum bestehen. Spricht das nicht dafür, die nationalen Souveränitäten in einer europäischen aufgehen zu lassen?
GALLI: Um das zu realisieren, müssten Macron und Merkel zustimmen, dass Deutschland und Frankreich auf einer Stufe mit Texas und Illinois rangieren. Tatsächlich bräuchte es dafür eine Revolution. Aber ich gebe Ihnen recht. Ein Staat mittlerer Größe wird es schwer allein mit Amazon aufnehmen können.

Also braucht es die EU ja doch!
GALLI: Ich könnte mir auch gut ein nur unter dem Banner gegenseitiger Wirtschaftshilfe geeintes Europa vorstellen. Ich meine, wir alle waren vor dem Euro doch sehr europäisch gesinnt. Sicher, es gab solche, die mehr verdienten und andere, die weniger hatten. Aber die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat funktioniert und war nützlich. Das wahre Problem kam erst mit dem Euro, mit dem Europa eine neue ökonomische Ordnung erhalten hat, den deutschen Ordoliberalismus. Dieser hat die Inflation zum Hauptfeind mit der Folge, dass, weil man das Geld nicht mehr abwerten kann, die Arbeit entwertet und rechtlich ausgehöhlt wird. Zudem lässt dieses Wirtschaftsmodell die sozialen Ungleichheiten wachsen. Das führt in den Euroländern dazu, dass Massen Benachteiligter den Staat um Schutz bitten. Doch statt in der Krise diesen Schutz zu geben, hat die EU mit Austerität geantwortet.

Eine Strenge, die in Spanien, Irland und sogar Griechenland inzwischen positive Früchte trägt.
GALLI: Das sagt man. Aber was ist der Preis dafür? Die Gesellschaften dieser Länder sind zerrissen. In Italien stürzen die Brücken ein und die Demokratie ist geschwächt. In Frankreich gibt es jeden Samstag Bürgerkrieg, und überall in Europa schießen die Protestparteien empor.

Der Euro als Wurzel allen Übels. Ist das bei dem Schuldenberg, auf dem Italien sitzt, nicht wohlfeil?

GALLI: Es stimmt, dass nicht alle Probleme Italiens auf den Euro zurückgehen. Aber der Euro akzentuiert sie und spaltet das Land. Italiens Schulden zählen da wenig. Der entscheidende Punkt ist, dass der Staat nicht genug Mittel für die notwendigen Investitionen hat und jedes Jahr noch tiefer schneiden muss. Das erzeugt Dynamiken, und eine Dynamik könnte sein, dass Italien eines Tages Großbritannien folgt und die EU verlässt, auch wenn heute keine politische Kraft im Land den Ausstieg aus der Eurozone will.

Pardon, Sie reden wie Salvini.
GALLI: Salvini ist ein rechter Populist. Aber der Souveränismus, auf dessen Boden er agiert, ist Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit, eines von vielen Ängsten gespeisten Unmuts, der eine böse Wendung nehmen kann. Nur das zählt. Wenn man daher gegen Salvini Politik machen will, was ist besser? Dass man ihn und seine Wähler Faschisten heißt, oder dass man zu begreifen sucht, was da geschieht?

Wäre ein Austritt Italiens das Ende der Europäischen Union?
GALLI: Europa würde endgültig zum deutsch-französischen Projekt. Das heißt, Deutschland hat in Wahrheit das Kommando. Es hat kapiert, dass es Frankreich nicht bekriegen, sondern nur gut behandeln muss. Es verlangt ihm nicht die Opfer ab, die es von Italien fordert, das wie ein Fisch am Haken zappelt. England ist dem entkommen, und euch Österreichern wird es in dieser EU nicht schlecht gehen. Schließlich seid ihr voll in die deutsche Wirtschaft integriert. Aber euch muss klar sein, dass so ein Europa kein souveränes Gebilde wäre, sondern ein Machtsystem, das – obschon friedfertig – von Berlin beherrscht wird. Aber auch Deutschland gleitet in eine Wirtschaftskrise, was Prognosen über die Zukunft der EU schwierig macht.