Großbritannien wird der EU noch länger als Mitglied erhalten bleiben. Dies haben führende EU-Politiker bereits vor Beginn eines weiteren Sondergipfels zum Brexit klargemacht. "Es läuft in Richtung Verlängerung und wahrscheinlich über den 1. Juni hinaus", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vor seiner Abreise nach Brüssel in Wien. Ein Hard Brexit am Freitag dürfte damit vom Tisch sein.

Auch andere EU-Regierungschefs äußerten sich ähnlich. "Ich reise mit einer offenen Einstellung nach Brüssel und gehöre zu dem Lager, das eine längere Verschiebung für besser hält, um dem Vereinigten Königreich mehr Zeit zu geben", sagte etwa der dänische Premier Lars Lökke Rasmussen. Der schwedische Premier Stefan Löfven sagte ebenfalls, dass er sich eine längere Verschiebung vorstellen könne.

London freundet sich mit Verschiebung an

Aus London kam vorsichtige Zustimmung zur Idee einer Brexit-Verlängerung über das von Premierministerin Theresa May beantragte Datum (30. Juni) hinaus. Brexit-Minister Steve Barclay sagte am Mittwoch der BBC, dass er keine lange Verschiebung der Frist wolle. Das Wichtigste sei aber, dass Großbritannien die Möglichkeit habe, die EU zu verlassen, sobald das Parlament einem Scheidungsabkommen zugestimmt habe.

Finanzminister Philip Hammond brachte einem Zeitungsbericht zufolge sogar eine Rücknahme des britischen Austrittsgesuchs ins Spiel, um einen harten Brexit zu verhindern. Hammond habe davon während eines Treffens mit Kabinettskollegen am Dienstag gesprochen, berichtet der "Telegraph" ohne Angabe von Quellen. Dabei seien verschiedene Szenarien durchgespielt worden. Laut einem am Montag in Kraft getretenen britischen Gesetz darf es keinen ungeregelten EU-Austritt geben.

180-Grad-Wende zu letztem Gipfel

Mit dem erwarteten Gipfelbeschluss vollziehen die EU-27 eine 180-Grad-Wende zu ihrem Sondergipfel vor drei Wochen. Damals hatten sie einen ersten Antrag Mays auf Fristverlängerung gestutzt und nur einen Aufschub bis zum 12. April gewährt, der bei einer Annahme des Austrittsdeals durch das Unterhaus bis 22. Mai verlängert werden sollte. Als Grund wurde die Europawahl genannt, an der die Briten keinesfalls teilnehmen sollten. Bundeskanzler Kurz hatte eine Teilnahme der Briten an der Europawahl noch am Montag als "absurd" bezeichnet.

Nachdem Mays Deal Ende März im Unterhaus zum dritten Mal abgelehnt wurde, scheint eine britische Teilnahme an der EU-Wahl unausweichlich zu sein. Laut einem Entwurf der Schlusserklärung für den EU-Gipfel soll ein spätest möglicher Austrittstermin genannt werden, wobei ein früherer Brexit möglich sein soll. May könnte so versuchen, durch eine Einigung mit der Labour Party in den nächsten Wochen die Teilnahme an der EU-Wahl doch noch zu verhindern. Das nächste Treffen in den parteiübergreifenden Gesprächen über einen Brexit-Kompromiss soll am Donnerstag stattfinden.

Gipfel startet um 18 Uhr

Mehrere EU-Staaten drängten vor dem um 18.00 Uhr beginnenden Sondergipfel aber auf Sicherheitsklauseln, um zu verhindern, dass die Briten den EU-Entscheidungsprozess nach den Europawahlen torpedieren. Der belgische Premier Charles Michel forderte im Sender Bel RTL "große Klarheit" darüber, was passiere, wenn Großbritannien während der Verlängerungsphase gegen EU-Interessen verstoße. Vorstellbar seien "Bedingungen", die bei Nichteinhaltung "automatisch zum Ende der Präsenz Großbritanniens innerhalb der EU führen", sagte Michel. Eine solche Klausel ist schon inbezug auf die EU-Wahl vorgesehen. Laut dem Entwurf scheidet London am 1. Juni automatisch aus der Union aus, wenn es keine Europawahl abgehalten hat.

EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach in seinem Einladungsbrief an die EU-Chefs davon, er erwarte von London die Garantie für einen "Geist der aufrichten Zusammenarbeit" mit der EU. Die EU-27 verlangen in dem Gipfel-Entwurf die "Verpflichtung Großbritanniens, in konstruktiver und verantwortungsvoller Weise diese einzigartige Periode in Einklang mit den Aufgaben einer aufrichtigen Zusammenarbeit" zu agieren. Die EU "erwartet, dass Großbritannien seine Verpflichtungen in einer Art erfüllt, die ihre Situation als austretender Mitgliedsstaat widerspiegeln".

Die britischen EU-Gegner haben bereits eine massive Obstruktionspolitik angedroht, sollte Großbritannien über die Europawahlen hinaus in der Union bleiben. "Wenn wir gezwungen werden, europäische Wahlen abzuhalten, können sie sich darauf verlassen, dass es absolut keine Kooperation seitens Großbritanniens in welcher Hinsicht auch immer geben wird", drohte die ehemalige UKIP-Vizechefin Suzanne Evans in Richtung EU. "Sie werden es mit 73 Klonen von Nigel Farage zu tun bekommen. Viel Glück", schrieb sie mit Blick auf die Zahl der britischen EU-Abgeordneten und den Brexit-Wortführer, der bei der Europawahl mit seiner neuen "Brexit Party" antreten will.

Zuvor hatte sich auch der Tory-Abgeordnete und Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg entsprechend geäußert. Vor allem sollten die britischen EU-Parlamentarier dann den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen blockieren, aber auch die ehrgeizigen Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron torpedieren.