Gestern hätte eigentlich „Brexit-Tag“ sein sollen. Immer wieder hatte Theresa May in den letzten zwei Jahren erklärt, am 29. März 2019 werde sich ihr Land von der EU trennen. Stattdessen entschied die Volksvertretung zum dritten Mal, dass sie von Mays Plänen nichts hält. Auf einer Sondersitzung des Unterhauses stimmten 344 Abgeordnete gegen und 286 für Mays Deal.

Damit war das Ergebnis knapper als bei den Abstimmungen von Ende Jänner und Mitte März, bei denen der Deal mit 432 zu 202 Stimmen beziehungsweise mit 391 zu 242 Stimmen abgelehnt wurde.

Viele Brexiteers, die anfangs noch gegen den Deal gestimmt hatten, unterstützten diesmal widerwillig die Regierung – teils aus Angst davor, dass es am Ende zu gar keinem Brexit kommen könnte, und teils in der Hoffnung, dass sie nach Verabschiedung des Vertrags unter neuer Führung einen härteren Kurs einschlagen könnten, da May für diesen Fall ihren Rücktritt angekündigt hatte.

Ex-Außenminister Boris Johnson und die früheren Brexit-Minister David Davis und Dominic Raab stimmten erstmals für den Deal, den Johnson noch vor Kurzem „eine Selbstmord-Weste“ genannt hatte, die Brüssel nach Belieben zünden könne. Andere Brexiteers hatten erklärt, Mays Deal mache das Vereinigte Königreich zu einem „Vasallenstaat“.

Empörung der Brexiteers

Viele Brexiteers glauben mittlerweile, dass der Austritt selbst infrage steht. Vor den Toren Westminsters verschaffte sich bei dieser Aussicht Empörung Luft. Tausende drängten sich auf dem Square. Drinnen in der Hohen Kammer hagelte es Rücktrittsforderungen gegen die Premierministerin – auch aus den konservativen Reihen. Anderswo hätten eine dreifache Niederlage dieser Art und ein bereits in Gang gekommener Nachfolgekampf wohl jeden Regierungschef zum Aufgeben gezwungen. May aber, am Boden, gibt nicht auf.

Was nun? Im Moment steuern die Briten auf einen neuen „Brexit-Tag“, den 12. April, zu. Nur weitere Kraftakte Westminsters und besonnene Reaktionen der EU können noch eine „No Deal“-Katastrophe verhindern. Eine enorme Verantwortung lastet auf der EU und auf Britanniens Parlamentariern, die binnen zehn Tagen ein Problem lösen sollen, das May in zwei Jahren nicht zu lösen vermochte.

Brexit-Labyrinth

Kein Wunder, dass so viele Briten das Gefühl beschlichen hat, in einem „Brexit-Labyrinth“ verloren zu sein. Andere glauben, ihr Land sei „in ein schwarzes Loch“ gestürzt.
Was alle auszudrücken suchen, ist, dass der Brexit-Prozess an einem absoluten Tiefpunkt angekommen ist. May ist es trotz aller Anläufe und allen Drucks nicht gelungen, ihr Parlament von ihrem Austrittsabkommen zu überzeugen – obwohl sie in ihrer Verzweiflung sogar ihren Rücktritt angeboten hat.

Sie will sich aber nicht geschlagen geben. Sie betrachtet ihren Austrittsvertrag als ihr Vermächtnis. Trotz aller Niederlagen sucht sie ihn noch immer mit allen ihr zur Verfügung stehenden Finessen zu retten.

"Spartaner" blieben hart

Die politischen Kräfte, die sich ihr widersetzen, waren am Freitag erneut im Parlament erfolgreich. Eine Gruppe von Tory-Hardlinern, die sich „die Spartaner“ nennen, konnte nicht einmal Mays Rücktrittsangebot beeindrucken. Sie haben sie abgeschrieben, wollen keinen Kompromiss. Und Nordirlands Unionisten haben auf stur geschaltet. Die zehn Abgeordneten der DUP stimmten gegen May. Labour-Leute wiederum, die zuvor ein Einlenken erwogen, beginnen sich Boris Johnson als Premier auszumalen.

Damit bleibt unklar, wie es in London weitergeht. Die EU will vorm 12. April wissen, ob Großbritannien einen neuen Kurs einzuschlagen plant und bereit wäre, sich an den EU-Wahlen zu beteiligen.
In diesem Fall könnten die Briten möglicherweise noch bis ins nächste Jahr in der Union bleiben. Dem müssten aber alle 27 europäischen Partner zustimmen. Ein EU-Gipfel ist für den 10. April einberufen.

Neuer Versuch: Montag

Die Möglichkeit eines Kurswechsels wollten sich die Gegner des May-Deals – und vor allem die Befürworter weiterer enger Verbindung zu Europa – jedenfalls offen halten. Abstimmungen über Alternativlösungen stehen für Montag auf der Tagesordnung des Unterhauses.

Die Initiatoren hoffen sich noch auf das Modell eines „weicheren“ Brexits, mit britischem Verbleib in Binnenmarkt oder Zollunion oder beidem, einigen zu können. Auch um die Frage eines erneuten Referendums wird weiter gerungen unter den und innerhalb der Parteien.

May hatte gehofft, solche Bemühungen unterlaufen zu können. Sie ließ am Freitag offen, ob sie ein viertes Mal versuchen würde, im Unterhaus den Austrittsvertrag durchzubringen.
Die Hersteller von Gedenk-Bechern und T-Shirts mit der Aufschrift „Britischer Unabhängigkeitstag 29.3.2019“ wollen ihre Ware nun als Kuriositäten verkaufen. Die Königliche Münze gab bekannt, dass sie geplante Gedenkmünzen mit dem Datum des 29. März vorsichtshalber noch nicht geprägt hatte. Dem Steuerzahler seien so „keine Kosten entstanden“.