Im Rahmen ihrer Gegenoffensive gegen die russischen Truppen hat die ukrainische Armee im Osten und Süden des Landes weitere Geländegewinne verzeichnet. "Befreit wurden im Abschnitt Bachmut im Verlaufe der vergangenen Woche zwei Quadratkilometer", teilte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Montag bei einem Pressebriefing mit. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock traf am Montag zu einem Besuch in Kiew ein.

Kleine, stetige Geländegewinne

Insgesamt sind laut Maljar am Abschnitt Bachmut im Donezker Gebiet 49 Quadratkilometer zurückerobert worden. Im Gebiet Saporischschja seien die russischen Besatzer südlich des Dorfes Robotyne und westlich des Ortes Werbowe von weiteren 1,5 Quadratkilometern verdrängt worden.

Ein Überraschungsschlag gelang den Ukrainern im Ort Opytne, der zurückerobert werden konnte, nachdem er im Herbst letzten Jahres aufgegeben werden konnte. Dadurch stehen ukrainische Truppen wieder nahe am Gelände des Flughafens von Donezk.

Die Ukraine wehrt seit über 18 Monaten eine russische Invasion ab. Vor gut 14 Wochen hat Kiew eine lang angekündigte Gegenoffensive gestartet, in deren Verlauf bisher rund 250 Quadratkilometer zurückerobert werden konnten. Dennoch kontrolliert Moskau einschließlich der bereits 2014 annektierten Schwarzmeerhalbinsel
Krim weiter mehr als 100.000 Quadratkilometer ukrainischen Staatsgebiets.

Bohrinseln zurückerobert

Nach Angaben ihres Militärgeheimdienstes hat die Ukraine auch mehrere Bohrinseln in der Nähe der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim zurückerobert. Es handle sich um die sogenannten Boiko-Bohrtürme, die seit 2015 von Russland besetzt gewesen seien. Seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 habe Russland die Plattformen für militärische Zwecke genutzt.

Masala: "Realistische Erfolgschancen"

Die Ukrainer haben nach Einschätzung des Militärexperten Carlo Masala einem Zeitungsbericht zufolge eine Erfolgschance von 40 bis 50 Prozent, bis zum Ende des Jahres die verbliebenen russischen Abwehrstellungen zu überwinden. "Ja, das ist realistisch", sagte Masala den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Montagausgabe) auf die Frage, ob er die dementsprechende Einschätzung des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency teile. "Das hängt allerdings von mehreren Faktoren ab: Wie reagieren die Russen? Haben sie noch genug Reserven? Werden die Ukrainer die relativ kluge Operationsführung beim Durchbruch durch die ersten beiden Verteidigungslinien fortsetzen? Und: Können Sie ihre Verluste minimieren?" Entscheidend sei, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Verbände in Bewegung halten können. "Wenn ihnen das nicht gelingt, haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder
einzugraben."

Die Ukrainer benötigten vor allem Nachschub an Munition, Ersatzteilen und Artilleriesystemen. Zur Kritik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der Westen liefere zu langsam Waffen und gefährde damit die Gegenoffensive, sagte Masala: "Dahinter würde ich ein Fragezeichen setzen. Bestimmte Waffen, wie etwa 500 bis 600 Kampfpanzer, könne die Ukraine nicht ausreichend aus dem Westen bekommen, weil sie nicht vorhanden seien.

Deutsche Außenministerin in Kiew

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock besucht unterdessen zum vierten Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 die Ukraine. Bei ihrer Ankunft sagte Baerbock der Ukraine anhaltende Unterstützung auf dem Weg in die Europäische Union zu, pochte aber auch auf weitere Reformbemühungen etwa im Kampf gegen die Korruption. Die Ukraine verteidige "auch unser aller Freiheit. So wie sich die Ukraine vor uns stellt, kann auch sie sich auf uns verlassen" - etwa darauf, dass Deutschland der Ukraine auf ihrem Weg in die Europäische Union entschlossen unter die Arme greife.

Die Ukraine hat seit Juni 2022 den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Die EU-Kommission definierte damals sieben Reformprioritäten, von denen sie einige teils als erfüllt ansieht. Ein neuer Fortschrittsbericht der Kommission wird im Oktober erwartet.

Baerbock: "Dinge nicht nur versprechen"

Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung der deutschen Regierung über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern machte Baerbock der Ukraine nicht. "Uns ist die Situation mehr als bewusst", sagte sie nach einem Gespräch mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. "Zugleich reicht es eben nicht aus, Dinge nur zu versprechen", sagte
sie. Wie vor der Lieferung des Luftabwehrsystems Iris-T und den anderen deutschen Waffenlieferungen müssten zunächst "alle Fragen geklärt sein".

Kuleba reagierte mit deutlichen Worten auf das weitere Zögern Deutschlands bei der Bitte Kiews nach den weitreichenden Marschflugkörpern, mit deren Hilfe sein Land Ziele hinter den großen russischen Minenfelder treffen will. "Ich verstehe nicht, warum wir Zeit verschwenden", sagte der Chefdiplomat. Ukrainische Soldaten und Zivilisten seien aufgrund des Zögerns getötet worden. "Es gibt kein einziges objektives Argument das dagegen spricht", sagte er. Wenn Berlin Fragen zum Einsatz habe, sei Kiew bereit, diese zu beantworten, sagte Kuleba.

Lavieren um Taurus-Marschflugkörper

Die Ukraine fordert seit längerem Taurus-Marschflugkörper. Kanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich dazu bisher immer zurückhaltend. Als Grund für die bislang ausgebliebene deutsche Entscheidung für Taurus-Lieferungen gelten Befürchtungen, dass die modernen Marschflugkörper von der Ukraine auch auf Ziele auf russischem Territorium abgefeuert werden könnten und Russland dann Vergeltung üben könnte.