Olha Saporoschenko erinnert sich an den schlimmsten Moment in sechs Monaten Trennung von ihren Kindern. Ihre älteste Tochter Daiana, 14 Jahre alt, meldete sich am Handy aus dem Kinderlager Luchystiy auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim.

"Mama, Sie sagen, dass wir nach einem halben Jahr von Russen adoptiert werden, wenn ihr uns nicht abholt", sagte die Tochter. Der Mutter fuhr der Schreck in die Knochen. "Ich habe meine drei Kinder geboren und aufgezogen. Ich dachte mir: Welches Recht haben die?", sagt die Mutter. Sie erkundigte sich bei der Leitung des Kinderheims und fand heraus, dass ihre Kinder tatsächlich in die Obhut einer russischen Pflegefamilie kommen könnten. "Ich flehte die Direktorin an, meine Kinder so lange wie möglich in Luchystiy zu behalten", erinnert sich die Mutter. Es hat gewirkt.

Gruppentherapien für betroffene Familien

Die 34-jährige Mutter sitzt in einem Konferenzraum eines Kiewer Hotels. Durch die Lobby geht es durch ein Labyrinth von Gängen zu dem Sitzungszimmer. Die Kindertherapeutin Olena Kapustiuk weist darauf hin, die Türen hinter sich zu schließen.

Fünf Familien mit 14 Kindern leben abgetrennt von den übrigen Gästen in den von der Hilfsorganisation "Save Ukraine" angemieteten Zimmern. Die Organisation schirmt die Minderjährigen von einer neugierigen Öffentlichkeit ab. Interviews mit Kindern lehnt "Save Ukraine" derzeit ab. Der Konferenzsaal des Hotels dient als Treffpunkt für die Familien. Kapustiuk bietet abends Gruppentherapien für die wiedervereinigten Familien an.

Saporoschenko schloss ihre drei Kinder Daiana, die elfjährige Yana und den zehnjährigen Nikita Ende März wieder in die Arme. Sie hatte sie seit dem 6. Oktober 2022 nicht gesehen. Der Mann holte die drei Kinder nach einer langen Fahrt aus Russland über mehrere europäische Länder in Kiew ab und brachte sie zur Mutter und dem jüngsten Sohn Matvey nach Cherson. Die Familie verließ die unter Beschuss stehende und Anfang Juni nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms zum Teil überflutete Großstadt im Süden der Ukraine im April und zog in die Notunterkunft von "Save Ukraine" in Kiew.

Kinder plötzlich unerreichbar

Die Mutter spricht von einem Gefühl der Langeweile, sobald ihre Kinder für Tagesaktivitäten das Hotel verließen. Heute besuchen sie etwa mit den Helfern von "Save Ukraine" ein Schwimmbad außerhalb von Kiew. Vielleicht zehrt auch Nervosität an ihren Nerven. Sie sei jedes Mal froh, wenn ihre Kinder abends nach einem Ausflug wieder bei ihr seien, sagt sie.

Die Kinderschützerin Myroslawa Kharchenko
Die Kinderschützerin Myroslawa Kharchenko © Cedric Rehman

Die russischen Behörden sprachen im Oktober davon, Saporoschenkos Kindern in Ferienheimen auf der Krim Schutz vor Bomben und Raketen zu bieten. Die Kinder aus Cherson sollten es sich zwei Wochen auf Kosten des russischen Staates auf der sonnigen Krim gut gehen lassen. "Meine Kinder haben mich angebettelt, dass sie mitdürfen", erinnert sich Saporoschenko. Nur den Jüngsten, den fünfjährigen Matvey, behielt die Mutter bei sich.

Einen Monat später rückte die ukrainische Armee in Cherson ein. Die russischen Besatzer verschwanden. Der an Cherson entlangfließende Fluss Dnipro bildete von nun an die neue Frontlinie. Saporoschenkos Kinder auf der Krim waren für ihre Eltern plötzlich so unerreichbar, als wären sie auf einem anderen Planeten.

Mindestens 20.000 Kinder in Russland

Auf einer Internetseite der ukrainischen Regierung finden sich die dokumentierten Fälle von in Russland sich aufhaltenden ukrainischen Kindern. Die aktuelle Zahl beträgt über 19.500. Schätzungen von "Save Ukraine" zufolge könnten es fast eine Dreiviertelmillion sein. Russland spricht selbst von 700.000 ukrainischen Kindern aus der Ukraine, die es zum Schutz beherberge.

"Save Ukraine" gelang es im April, auf einen Schlag 31 ukrainische Kinder aus Russland zurückzubringen. Die ukrainischen Hilfsorganisationen erreichten nur in wenigen Fällen etwas für die Rückführung der Kinder, sagt die Kinderschützerin Myroslawa Kharchenko. Der Aufwand sei in jedem einzelnen Fall enorm.

Ein Plüschtiger steht auf dem Schreibtisch von Myroslawa Kharchenko. Die Anfragen von verzweifelten Eltern, die wie die Saporoschenkos im vergangenen Herbst und Winter nach ihren verschwundenen Kindern suchen, stapeln sich vor ihr.

Mütter müssen in Russland bitten

Russland gestattet die Rückkehr von Kindern in die Ukraine. Allerdings müssen die Mütter nach einer halben Weltreise erst an die Tore der russischen Heime klopfen. "Save Ukraine" finanziert Müttern die Reise nach Russland über lange Umwege. Die Väter im wehrfähigen Alter dürfen die Ukraine aufgrund des Kriegsrechts nicht verlassen. Also müssen die Mütter allein reisen. Sie legen auf einer geheimen Route Tausende Kilometer in Bussen zurück, um nach Russland einzureisen. Sie müssen dann die Heime aufsuchen, in denen ihre Kinder vermutet werden, und sich als erziehungsberechtigt ausweisen. Dazu brauche es viele Dokumente, erklärt Kharchenko.

Olha Saporoschenko besaß keinen eigenen Reisepass. Sie musste eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass eine andere Mutter ihre Kinder in Empfang nehmen dürfe. Mit dem Papier im Gepäck reiste die Ukrainerin auf die Krim und nahm neben den eigenen Kindern auch Saporoschenkos Töchter und ihren Sohn mit in die Ukraine.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) ermittelt wegen des Verdachts auf Kinderdeportationen gegen Russland. Moskau erkennt das Den Haager Gericht nicht an und weist den Vorwurf eines Kriegsverbrechens zurück.

Seit September Entführungen bekannt

Die ersten ukrainischen Kinder verschwanden, als die ukrainische Armee im September 2022 die ausgedünnten russischen Truppen aus dem Nordosten um die Millionenstadt Charkiw herum vertrieb. Die russischen Besatzer brachten wie später in Cherson die Kinder auf die russisch besetzte Krim oder nach Russland, bevor die Ukrainer Städte und Dörfer im Nordosten der Ukraine einnahmen.

Einige ukrainischen Kinder würden von Heim zu Heim verlegt, sagt Kharchenko. Nicht alle hätten eigenes Handy wie Daiana Saporoschenko. Anderen würde das Smartphone abgenommen. Allein auf der Krim gibt es neben dem Feriencamp Luchystiy noch die Kinderlager Traum und Freundschaft. Die Suche nach den Kindern werde so zur Schnitzeljagd. Die ständigen Verschickungen auch in andere Regionen Russlands erschwerten nicht nur das Aufspüren durch die Eltern. Sie verhinderten auch, dass die Kinder an einem Ort wieder Boden unter den Füßen spürten und neue Bezugspersonen fänden. "Ich glaube, sie wollen so den Willen der Kinder brechen. Dann ist es leichter, sie zu beeinflussen", sagt die Kinderschützerin.

Haftbefehl gegen russische Kinderbeauftragte

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat die russische Kinderbeauftragte Lwowa-Bielowa mit einem Haftbefehl zur weltweiten Fahndung ausgeschrieben. Auch bei den Ermittlungen des Den Haager Gerichts gegen Wladimir Putin geht es um Verdacht auf Kindesentführung.

Die Kinder- und Familientherapeutin Olena Kapustiuk fühlt sich bei ihrer Arbeit mit den deportierten Kindern und ihren Müttern in der Kiewer Unterkunft manchmal wie eine Animatorin in einem Ferienclub. Die Therapieangebote der Psychologin sind für die Bewohner kostenlos. Sie müsse sich dennoch jedes Mal etwas ausdenken, um Kinder und Mütter zu einer Sitzung zu motivieren, sagt sie. "Die ukrainische Gesellschaft ist nicht sehr offen für das Konzept der Psychotherapie", sagt Kapustiuk.

Sie sei noch dabei, die Kinder und ihre Mütter zu beobachten. Ihre ersten Eindrücke ließen bei vielen auf einen schweren Prozess der Anpassung schließen. Die Kinder müssten sich wieder an Mütter gewöhnen, von denen sie sich viele im Stich gelassen fühlten. Viele Mütter empfänden angesichts des abweisenden Verhaltens ihrer Kinder Schuld. "Meinem Eindruck nach gibt es Wut auf beiden Seiten. Das müssen wir genauer beobachten", sagt sie.

Proukrainische Kinder wurden gedemütigt

Viele Kinder sprächen davon, dass ihnen die Zeit auf der russisch besetzten Krim oder in Russland gut gefallen habe. Manche, die sich rebellisch verhielten oder sich proukrainisch geäußert hätten, berichteten von Strafen. Dabei sei es zu Demütigungen vor der Gruppe gekommen. Wer sich ruhig verhielte, habe die Camps als Zeit ohne Kontrolle durch Eltern und Lehrer erlebt. Manchen Jugendlichen habe das gar nicht schlecht gefallen, meint die Therapeutin.

"Sie erzählen, dass es einmal am Tag einen Fahnenappell gegeben hat. Dabei wurde die russische Flagge gehisst. Ansonsten gab es keinen geregelten Schulunterricht. Die Kinder waren oft unter sich", sagt die Therapeutin.

Es gibt in der Ukraine viele Spekulationen, warum Russland den Kindern aus dem Feindesland die Rückkehr zu ihren Familien so schwer macht. Die ukrainische Regierung äußerte bereits kurz nach Kriegsbeginn den Vorwurf an Russland, Ukrainer zu verschleppen. Damals war nicht nur von Kindern die Rede, sondern auch von Erwachsenen.

Die Therapeutin Olena Kapustiuk
Die Therapeutin Olena Kapustiuk © Cedric Rehman

Die Kriegsparteien äußern wenig erstaunlich gegensätzliche Erklärungen für den Aufenthalt von Ukrainern in Russland. Während Russland auf humanitäre Gründe verweist, mutmaßt Kiew, dass nicht nur russisches Territorium auf Kosten der Ukraine vergrößert werden soll. Russland wolle Ukrainer zu Russen umerziehen, heißt es in der Ukraine.

Die Therapeutin Olena Kapustiuk ist sich bewusst, dass Sandamandalas nicht ausreichen, um Traumata zu heilen. Die Ukraine müsse eine langfristige Versorgung der Kinder und ihrer Familien mit Psychologen auf die Beine stellen, fordert sie.

Olha Saporoschenko spricht ohne erkennbare Regung über die Trennung von ihren Kindern. Ihre Kinder seien nicht auffällig und nein, Konflikte gebe es keine. Sie sorge sich etwas um die schulischen Leistungen ihrer Kinder, räumt Saporoschenko ein. Regelmäßigen Schulunterricht habe es auch im Camp Luchystiy nicht gegeben. Aber insgesamt gehe es ihrer Familie gut. "Hauptsache, wir sind alle wieder zusammen."