"Das ist keine Show, bei der die ganze Welt zuschaut und Wetten abschließt", sagte der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj unlängst zur vor einigen Wochen gestarteten Gegenoffensive. Zwar berichtet Kiew von Geländegewinnen, doch die fielen bis dato gering aus. Kiew meldet 157 Quadratkilometer – deutlich weniger als die Hälfte der Fläche Wiens. "Jeden Tag und für jeden Meter fließt Blut", betonte Salaschnyj in dem Interview mit der Washington Post. Welch hohen Blutzoll die Kämpfe fordern, bezeugen Aufnahmen von verwundeten und gefallenen Soldaten. Aufnahmen, die aufgrund der gebotenen Pietät der Berichterstattung nicht abgedruckt werden.

Der ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj musste zuletzt einräumen, dass die Gegenoffensive "langsamer als gewünscht" voranschreitet, doch er betont die jüngsten Fortschritte: "Wir kommen Schritt für Schritt voran." 

"Die ukrainische Offensive ist mit ihrem ersten Ansatz gescheitert", analysiert Oberst Markus Reisner vom Bundesheer die Situation – was aber keine Aussage über Erfolg oder Misserfolg an sich zulasse. "Die Ukrainer haben sich konsolidiert und versuchen jetzt, eine neue Taktik anzuwenden." Frontale Vorstöße seien wegen fehlender Unterstützungswaffen nicht erfolgreich gewesen, darum würde man jetzt auf "Treeline Hopping" setzen, so Reisner: In dem flachen Gelände – vergleichbar mit dem Marchfeld – kämpfen sich kleine Stoßtrupps von Baumzeile zu Baumzeile voran. Anders als bei großen Kolonnen bleibe ihr "taktischer Fußabdruck" geringer, sie können länger unbemerkt in Richtung russischer Stellungen vordringen. Der Nachteil: Die Gebietsgewinne dabei sind nicht groß, "das dauert, aber es funktioniert", erklärt Reisner.

Markus Reisner, Militärstratege beim Bundesheer
Markus Reisner, Militärstratege beim Bundesheer © Kurt Kreibich

Die Ukraine mache das beste aus ihrer Situation, indem sie auf diese Taktik setze. Die Verantwortlichen bei der Armee würden wohl die effektiveren Frontalvorstöße bevorzugen, doch dazu fehlt es an der nötigen Unterstützung, vor allem aus der Luft – nicht zuletzt deswegen erneuerte Saluschnyj Kiews Forderung nach mehr Kampfjets. An den ukrainischen Westgrenzen seien mehr Jets der Nato in der Luft, als die ukrainische Armee zur Verfügung habe. "Warum können wir nicht mindestens ein Drittel davon hier haben?", fragte Saluschnyj.

Einen wirklichen Durchbruch stellen die bisher überschaubaren Geländegewinne nicht dar. Aus ukrainischer Sicht wäre ein Vorstoß bis zum Asowschen Meer das Optimale, meint Militärstratege Reisner. Doch auch schon ein Vorstoßen bis zur Eisenbahnlinie – eine wichtige Versorgungslinie für die Krim – wäre aus seiner Sicht schon ein wichtiger Erfolg.

Wie geht es mit Wagner weiter?

Anders als von Kiew erhofft, hat sich der innere Konflikt Russlands rund um den Chef der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin und dem gescheiterten Putsch wohl kaum auf die Stärke der russischen Truppen  beziehungsweise das auf das Geschehen an der Front ausgewirkt:  "Wir haben nicht gespürt, dass ihre Verteidigung irgendwo oder irgendwie schwächer wurde", unterstrich Saluschnyj. Die Wagner-Kämpfer hatten sich schon Wochen zuvor von der Front zurückgezogen. Prigoschin und einige seiner Anhänger befinden sich bekanntlich in Belarus. Zuletzt wurde spekuliert, ob die Wagner Gruppe die Ukraine vom nördlichen Nachbarn aus angreifen könnte und sowohl Kiew als auch Warschau haben den Grenzschutz verstärkt. Doch Hinweise auf einen entsprechenden Truppenaufmarsch gibt es derzeit nicht. 

"Es wird sehr, sehr blutig"

Eine Herausforderung für die Ukraine ist, dass die Russen lange Zeit hatten, sich auf die Gegenoffensive vorzubereiten. Reisner: "Sie konnten sich Monate lang eingraben und viele Kräfte heranführen." Kiew müsse also Kilometer für Kilometer vorrücken. Reisner schätzt das ein, wie der hochrangige US-General Mark Milley: "Das wird sehr lange dauern und es wird sehr, sehr blutig."

Eine große Bewegung könne jedenfalls nur dann eintreten, wenn die russische Front zusammenbricht. Entweder, weil sich die Moral der Truppen plötzlich tatsächlich verändert, was laut Reisner derzeit nicht absehbar sei. Ein Zusammenbruch könnte aber auch durch die Lieferung eines neuen Waffensystems ausgelöst werden, dass der Ukraine einen Vorteil verschafft. Reisner spricht die von den USA in Aussicht gestellten "ATACMs" an: "Die könnten denselben Erfolg erzielen wie damals die HIMARS-Systeme". Dabei handelt es sich um eine ballistische Kurzstreckenrakete mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern. Damit könnten russische Stellungen und Versorgungsposten weit hinter der Front erreicht werden. Die Qualität und Verfügbarkeit von Waffensystemen spielen jedenfalls eine wichtige Rolle.

Ukraine wird sich bemühen, Erfolge vorzuweisen

Die Ukraine wird sich bemühen, in den nächsten Tagen Erfolge vorzuweisen: In der litauischen Hauptstadt Vilnius steht am 11. und 12. Juli ein Nato-Gipfel an. Die weitere Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen den seit über einem Jahr andauernden russischen Angriff wird ein zentrales Thema sein. "Und dort möchte man natürlich zeigen, warum es Sinn macht, die Ukraine weiter zu unterstützen", erklärt Markus Reisner.