Die US-Regierung kann nach eigener Darstellung nicht abschließend die Ursache für die Zerstörung des Staudamms benennen. Es würden Berichte geprüft, wonach die Explosion von Russland verursacht worden sei, sagte Sprecher John Kirby. Militärexperte Markus Reisner vermutet, dass die russischen Besatzer den Staudamm gesprengt haben, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. "Die Anlandung amphibischer Kräfte ist nicht möglich", sagte der Militäranalyst des Bundesheeres im ZDF Mittagsmagazin.

US-Geheimdiensterkenntnisse deuten einem Medienbericht zufolge darauf hin, dass Russland hinter der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine steckt. Das meldete der Sender NBC News am Dienstag. Nach Angaben aus Kiew müssen Zehntausende Menschen vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht werden. Allein auf der von den Ukrainern kontrollierten rechten Seite des Flusses Dnipro müssten 17.000 Anrainer gerettet werden.

Rund 1.300 Menschen hatten ihre Häuser laut ukrainischen Angaben bis zum Nachmittag verlassen, sagte die stellvertretende Generalstaatsanwältin, Viktoria Lytwynowa. Weitere rund 25.000 Menschen seien auf der von Russland besetzten südlichen Flussseite in Gefahr, hieß es zudem aus Kiew. Über ihr Schicksal war zunächst wenig bekannt.

Zerstört auf Hälfte seiner Länge

Der Staudamm ist der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge auf der Hälfte seiner Länge zerstört. Das Bauwerk stürze weiter ein, meldete die staatliche Agentur unter Berufung auf Rettungsdienste. Der Wasserstand in Nowa Kachowka stieg örtlichen Behörden zufolge um mehr als zehn Meter an. Das meldete Tass unter Berufung auf die von Russland eingesetzte Verwaltung in dem besetzten Ort. Nowa Kachowka ist der Teil der Stadt Kachowka, der direkt am Staudamm liegt. Kachowka selbst liegt weiter östlich.

Russischen Behördenangaben zufolge waren 22.000 Menschen von Überschwemmungen in dem von Russland besetzten Gebiet bedroht. Das meldet die Agentur RIA unter Berufung auf die von Russland installierte Verwaltung in den besetzten Teilen der ukrainischen Oblast Cherson. Die Menschen lebten in 14 Ortschaften im Süden der Oblast Cherson. Die ukrainische Seite sprach von 16.000 Menschen in der "kritischen Zone" am unter Kontrolle der Ukraine stehenden rechten Ufer des Flusses Dnjepr. Demnach seien 80 Ortschaften von Überschwemmungen bedroht.

Das Kachowka-Wasserkraftwerk war nach Angaben des staatlichen ukrainischen Wasserkraftunternehmens Ukrhydroenerho nach einer "Explosion" im Maschinenhaus "vollkommen zerstört" worden. Der Bürgermeister von Nowa Kachowka, Wladimir Leontew, bestätigte, dass sich der Staudamm vermutlich nicht mehr reparieren lasse.

Bürgermeister widerspricht Angaben

Er widersprach laut der russischen Nachrichtenagentur RIA Berichten über eine Sprengung des Staudamms durch russische Truppen. Leontew berichtete von Schäden durch ukrainischen Artilleriebeschuss. In Nowa Kachowka seien demnach bereits rund 300 Häuser evakuiert worden. Ein Teil der Stadt sei aus Sicherheitsgründen von der Stromversorgung abgeschnitten worden. Der Wasserstand rund um den zerstörten Kachowka-Staudamm ist RIA zufolge bereits um fünf Meter gestiegen. Mehrere flussabwärts gelegene Inseln seien inzwischen völlig überflutet, meldet RIA unter Berufung auf örtliche Behörden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht in der Zerstörung des Kachokwa-Staudammes die Bestätigung für die Notwendigkeit, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine zu vertreiben. "Russische Terroristen. Die Zerstörung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka beweist der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Landes vertrieben werden müssen", schrieb Selenskyj auf Telegram. "Kein einziger Meter sollte ihnen bleiben, denn sie nutzen jeden Meter für Terror."

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ging hart mit Russland ins Gericht. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die
Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert."
EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich schockiert über einen
"beispiellosen Angriff". Der britische Außenminister James Cleverly
sprach von einem "Kriegsverbrechen".

Selenskyj berief eine Notfall-Sitzung des nationalen Sicherheitsrats ein. Das teilte der Sekretär des Rats, Olexij Danilow, am Dienstag früh auf Twitter mit. Selenskyjs Berater Andrij Jermak bezeichnete die Zerstörung des Kachowka-Staudammes als "Ökozid" und machte dafür Russland verantwortlich.

Wasserversorgung der Krim

Das Reservoir Kachowka versorgt die von Russland 2014 annektierte Halbinsel Krim mit Wasser, wie auch das besetzte AKW Saporischschja. Laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) besteht nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms keine unmittelbare Gefahr für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja. "IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau", teilte die Behörde am Dienstag früh auf Twitter mit. "Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk." Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW – das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt – sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

Nach Einschätzung der ukrainischen Atomenergiebehörde Enerhoatom hingegen stellt die Zerstörung des Staudammes schon eine Gefahr für das AKW Saporischschja dar. Die Lage in dem AKW sei aber gegenwärtig unter Kontrolle, teilt Enerhoatom auf Telegram mit. "Wasser aus dem Kachowka-Stausee ist notwendig, damit die Anlage Strom für die Turbinenkondensatoren und Sicherheitssysteme des Kernkraftwerks erhält", erklärt Enerhoatom. "Derzeit ist das Kühlbecken der Anlage voll: Um 08.00 Uhr beträgt der Wasserstand 16,6 Meter, was für den Bedarf der Anlage ausreicht."

Damm wurde 1956 errichtet

Für den Nord-Krim-Kanal besteht laut russischer Nachrichtenagentur TASS keine unmittelbare Gefahr der Austrocknung. Die staatliche Agentur beruft sich auf örtliche Behörden. Der Kanal wird aus dem Kachowka-Stausee gespeist und verläuft durch den Süden der Oblast Cherson, die der Halbinsel gegenüber liegt.

Der 30 Meter hohe und 3,2 Kilometer lange Damm wurde 1956 als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka errichtet. Der Stausee fasst rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser bei einer Fläche von knapp 2200 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Das Bundesland Vorarlberg hat eine Fläche von 2600 Quadratkilometern. Weitläufige Überschwemmungen werden nun befürchtet. Laut Medienberichten wurde mit Evakuierungen im Gebiet begonnen. Das Wasser werde binnen fünf Stunden kritisches Niveau erreichen, schrieb der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, auf Telegram.

Vereitelung von Großoffensive gemeldet

Russland hatte zuvor die Vereitelung einer weiteren Großoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Region Donezk vermeldet. Wie das russische Verteidigungsministerium am Montagabend mitteilte, wurden dabei u.a. acht Leopard-Kampfpanzer und drei französische Radpanzer zerstört. 1500 ukrainische Soldaten seien getötet worden. Auch seien 109 gepanzerte Vehikel zerstört worden. Der Bericht konnte nicht unabhängig bestätigt werden, eine Stellungnahme vonseiten der Ukraine lag nicht vor.

Prigoschin hat starke Zweifel

Zweifel an den Angaben kamen vom Chef der russischen Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin. Die vermeintlichen Opferzahlen in den Reihen der Ukrainer sah er als nicht realistisch an. Dafür seien weitaus mehr Bodengewinne erforderlich. "Deshalb glaube ich, dass das einfach wilde und absurde Science-Fiction ist", sagte Prigoschin in einem Statement auf seinem Telegram-Kanal.

Zähle man die Zahlen des Ministeriums zusammen, "haben wir den gesamten Planeten bereits fünfmal zerstört", fügte er sarkastisch hinzu. Prigoschin hat die russische Militärführung bereits mehrfach scharf kritisiert und ihr Unfähigkeit vorgeworfen.