Die Tinte ist trocken, die Annexion offiziell, Putins neuestes Projekt ist vollbracht. Das flächenmäßig größte Land der Erde will künftig um vier Regionen größer sein als bisher: Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja seien nun "für immer" Russland, behauptete Wladimir Putin bei einem pompös inszenierten Festakt am Moskauer Roten Platz. Dass weder die Ukraine noch die internationale Staatengemeinschaft diesen Landraub anerkennen, kümmert die russische Führung offenbar nicht.

Grenzenlose Verwirrung

Die Apparatschiks hinter den Kremlmauern wissen nicht einmal selbst, wo genau die angeblichen neuen Grenzen der Russischen Föderation auf ukrainischem Gebiet nun verlaufen: Laut Kremlsprecher Dmitri Peskow würden die Grenzen "im Dialog mit der Bevölkerung" festgelegt. Das heißt, niemand weiß derzeit, wo die Atommacht Russland anfängt und aufhört. Das ist ein historischer Moment, und es ist zutiefst besorgniserregend.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die staatsnahen Meinungsforscher die ersten Umfragen publizieren werden, die dieser illegalen Gebietserweiterung eine überwältigende Zustimmung der Bevölkerung bescheinigen. Was nichts daran ändert, dass die meisten Menschen in Russland mit dieser Annexion wenig anfangen können.

Im Unterschied zur völkerrechtswidrigen "Eingliederung" der Halbinsel Krim 2014, die nach demselben Drehbuch ablief, fehlt nun jedes historische oder ideologische Narrativ. Die Annexion sichert nicht einmal die russisch besetzten Territorien vor der ukrainischen Gegenoffensive ab, wie die kürzliche Rückeroberung von Lyman zeigt, einer strategisch wichtigen Stadt im Gebiet Donezk.

Die Bevölkerung hat andere Sorgen

Dass die russische Bevölkerung Putins Expansionswahn im Großen und Ganzen achselzuckend hinnimmt, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: der Mobilmachung. Dass Putin sie als "Teilmobilmachung" bezeichnet, nimmt der Masseneinberufung nichts an Sprengkraft: Familien bangen im ganzen Land um ihre Söhne, Väter und Verwandten. Wer sich dem Kriegsdienst entziehen will, dem bleibt nur, Russland zu verlassen (mindestens 300.000 Menschen sollen das bereits getan haben) – oder unterzutauchen. Gerade in ärmeren Regionen in Sibirien und am Kaukasus werden wahllos Männer eingezogen.

Doch selbst meine männlichen Freunde und Bekannten in Moskau, wo die "Spezialoperation" bisher weit weg schien, öffnen inzwischen niemandem mehr die Wohnungstür. Es könnten ja die Herren von der Einberufungsbehörde sein. Viele meiden die U-Bahn, auch dort werden Einberufungsbefehle verteilt. Im Netz kursieren Tipps, wie man sich möglichst schmerzlos den Arm bricht, um als untauglich eingestuft zu werden.

Nur Vereinzelte wagen noch den Aufstand. Die Proteste der vergangenen Wochen wurden im Keim erstickt. Mit einer perfiden, neuen Unterdrückungsmethode: Viele Männer, die auf Protesten festgenommen werden, bekommen noch auf der Polizeiwache einen Einberufungsbefehl ausgehändigt. Wer Widerstand übt, wird erst recht an die Front geschickt.