MICHAEL FLEISCHHACKER: Die erste Frage ist natürlich, wen wir meinen, wenn wir "wir" sagen. Ich zum Beispiel bin mit Israel nicht zu tolerant, glaube ich. Aber ich bin Israel gegenüber sehr tolerant, wenn damit gemeint ist, dass ich das Vorgehen Israels in Gaza und gegenüber dem Hamas-Terrorismus sowohl für gerechtfertigt als auch im Wesentlichen für angemessen halte. Zu tolerant sind "wir", wenn damit der österreichische Medien-Mainstream gemeint sein sollte, mit den Hamas-Terroristen.

ARMIN THURNHER: Ich denke, den Begriff "tolerant" können wir in diesem Zusammenhang wirklich beiseite lassen. Vielleicht aber auch nicht, denn schon die Fragestellung verlangt es von uns, dass wir sie zurückweisen. Sie ist natürlich listig gemeint, denn unser besonderes Verhältnis zu Israel nimmt viele peinliche Formen an. Wir fühlen uns durch unsere historische Schuld in einer besonderen Rolle und sind es auch. Also steckt in dem Wort tolerant (duldsam) wohl die Idee, wir müssten "denen" einfach mehr durchgehen lassen als anderen. Das führt zu seltsamen Sprachverrenkungen, aber selbst in Friedenszeiten zu einer unproportional hohen Aufmerksamkeit für diesen Teil des Nahen Ostens, die wir benachbarten Gebieten dort nicht zuwenden. Es ist, als fühlte sich unsere Öffentlichkeit bei der Nennung des Wortes Israel ertappt.

FLEISCHHACKER: Nein, es geht nicht darum, dass wir Ertappte "denen", also Israel, mehr durchgehen lassen, als anderen. Es geht schlicht darum, dass die Anti-Israel-Demonstrationen, die in jüngster Zeit anlässlich der Auseinandersetzung um Gaza stattgefunden haben, eine ziemlich unappetitliche Spielart des überwiegend linken Antisemitismus offenlegen. Der Ökonom Stefan Schulmeister setzte dieser Tage folgenden Tweet ab: "Verantwortung zeigen. Keine Investitionen in israelische Banken, die die illegale Besetzung Palästinas finanzieren." Der Begriff "illegale Besetzung" Palästinas ist die harmlos klingende Formulierung für die Infragestellung des Existenzrechtes des jüdischen Staates, die den Ausgangspunkt für den islamistischen Terror darstellt. Wer wirtschaftliche Sanktionen als Antwort auf die Existenz des jüdischen Staates fordert, wagt sich an eine Neuformulierung der alten Forderung "Kauft nicht bei Juden".

THURNHER: In Kenntnis Stefan Schulmeisters muss ich das natürlich als Unterstellung zurückweisen, zumal Tweets und Facebookmeldungen mit diesem Text seit Jahren kursieren. Ich denke auch, dass bei weitem nicht alle antisemitischen Manifestationen der Linken in die Schuhe geschoben werden können. Etwa das Bischofshofener Fußballfanal, als türkische (genauer wohl: türkisch-österreichische) Demonstranten ein Freundschaftsspiel von Maccabi Haifa störten und Spieler attackierten. Oder Herrn Erdogans Vergleich des israelischen Ministerpräsidenten mit Hitler. Das linke Monopol auf Antisemitismus nach 1945 in Europa ist längst gefallen. Und was das Existenzrecht des Staates Israel betrifft: Das hat mich ja am Begriff Toleranz so gestört, als wäre es an uns, so etwas überhaupt infrage zu stellen. Kritisieren dürfen wir aber schon noch, oder?

FLEISCHHACKER: Klar dürfen wir kritisieren. Israel muss sich für unangemessene Reaktionen auf den Terror der Hamas kritisieren lassen. Dass aber gegen Israel demonstriert wird, weil es versucht, Hamas-Stellungen auszuschalten, obwohl diese bewusst in dicht besiedeltem Gebiet installiert werden, während kein nennenswerter Protest gegen die Hamas-Terroristen stattfindet, sollte uns doch stutzig machen, finden Sie nicht, Thurnher? Ein Monopol auf den Antisemitismus gab es übrigens nie, nicht vor 1945 und auch danach nicht. Derzeit dominiert in der öffentlichen Debatte der islamische Antisemitismus, der ja auch historisch viel enger mit dem Nationalsozialismus verbunden war als gemeinhin bekannt ist. Die Gründerväter des "islamischen Faschismus" (so der Titel des einschlägigen Buches von Hamed Abdel-Smad) waren große Bewunderer von Adolf Hitler, die Deutschen unterhielten einen eigenen Sender für die antisemitische Propaganda im arabischen Raum. Im linken Antisemitismus trafen und treffen sich antiamerikanische, antikapitalistische und antiintellektuelle Strömungen.

THURNHER: Umso schwerer fällt es, hier klar zu sehen. Die Post-68-er hatten größte Mühe, die Einsicht zu akzeptieren, dass ihr vermeintlicher Antizionismus nur Antisemitismus war. Es fällt aber auf, dass erstens unser Kritikbedürfnis gegenüber Israel überproportional ausgeprägt zu sein scheint, und in merkwürdiger Relation dazu auch unser Toleranzbedürfnis. Die Hamas ist eine terroristische Organisation, das können wir außer Streit stellen. Ein zivilisierter Staat, und das ist Israel - ebenfalls unbestreitbar - hat dem Terrorismus gegenüber Selbstverteidigungspflicht. Die Hamas hält ihre Zivilbevölkerung in Geiselhaft, das führt zu einer ausweglosen Lage. Wir fokussieren uns geradezu manisch auf diese Auseinandersetzung, als wäre sie nur ein Anlass, und zugleich wächst in Europa nicht nur der islamische, sondern auch der autochthone Antisemitismus. Juden wandern aus Frankreich nach Israel aus, in Deutschland grölen Neonazis alte Parolen.

FLEISCHHACKER: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sagen Sie, dass die Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas ausweglos ist und wir uns deshalb nicht überproportional darum kümmern sollen, nach dem guten alten österreichischen Grundsatz: Eh schon egal. Ich sehe das anders. Ich halte die auf den ersten Blick übergroße Aufmerksamkeit für diesen einen Konflikt in der großen Konfliktregion Nahost am Ende nicht für übergroß, sondern für angemessen. Denn die Rolle Israels in der Region ist paradigmatisch für die Rolle des Westens gegen gegenüber dem Islamismus. Wir sollten nicht zulassen, dass die Kombination aus mörderischer Aggression und Opferpose, die von den Islamisten und ihren westlichen Verstehern so perfekt beherrscht wird, die Lufthoheit über den Debattentischen erringt.

THURNHER: Nein, keine Opferposen und kein Moralisieren in unserer Debatte, bitte, für ein einzigesmal. Mein Argument ist dieses: Israel, das ist der Dorn in unserem Fleisch, das sind auch unsere Juden, das ist auch unsere (Wiener) Idee. Israel können wir nicht mit "normalem Blick" betrachten, nicht wie jeden anderen Staat, wir können es auch nicht "vernünftig" kritisieren, weil unsere Vernunft beim Thema Israel aussetzt, aussetzen muss. Das übermäßige Verständnis für Gewalt des Staates Israel, die übermäßige Kritik an der Gewalt des Staates Israel, die übermäßige Leidenschaft, mit der wir fast alles betrachten, was dort geschieht - das sagt doch mehr über uns als über Israel. Nicht das Unverdächtigste daran ist der Philosemitismus, man will gar nicht wissen, was sich darunter verbirgt. Wir haben Israel gegenüber nicht tolerant zu sein, wir hätten vielmehr alles zu tun, an unserem eigenen Blick zu arbeiten. Und wir sollten Auseinandersetzungen anderer Länder nicht dazu missbrauchen, unsere eigenen Rechnungen zu begleichen. Israel eignet sich dazu am wenigsten.