Gut eine Woche vor dem Brexit-Referendum am 23. Juni hat der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Briten vor einem Austritt aus der Europäischen Union gewarnt. "Das wäre eine Erschütterung der EU", sagte Steinmeier am Mittwoch nach einem Treffen mit seinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault.

Steinmeier warnt
Steinmeier warnt © AP

Die anderen EU-Staaten müssten sich dann gegenseitig versichern, "dass die EU weiter zusammenhält und dass aus einem sehr erfolgreichen, jahrzehntelangen Integrationsprozess nicht am Ende Desintegration wird". Ayrault und er hätten beide den Wunsch, "dass die Mehrheit in Großbritannien die richtige Entscheidung fällt", sagte Steinmeier nach den Beratungen in seinem Wahlkreis in Brandenburg an der Havel. "Und die richtige Entscheidung kann aus unserer Sicht nur sein, in Europa zu bleiben", fügte Steinmeier hinzu. "Europa würde vieles fehlen, wenn sich Großbritannien für ein Ausscheiden entscheiden würde."

Ex-Premier warnt vor Krieg

Die Europäische Union könnte nach einem Austritt Großbritanniens zerfallen und in kriegerischen Auseinandersetzungen versinken. Dies befürchtet der slowenische Ex-Premier Janez Jansa. Bei einem Ja zum Brexit "werden wir uns am nächsten Tag in einer anderen Union befinden", sagte Jansa im APA-Interview. Ohne "operative Fähigkeiten" zur Bewältigung der Migration "wird es mit Europa vorbei sein".

Solidarität ist gefordert

In der Flüchtlingskrise sprach sich der konservative Politiker für eine europaweite Quotenregelung und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus. "Ohne Solidarität hat die Menschheit keine Perspektive", betonte der frühere EU-Ratspräsident. Doch könnten die EU-Staaten nur helfen, wenn sie für die Sicherheit ihrer Bürger sorgen. Wenn dies nicht mehr gewährleistet sei, könnte Europa nämlich selbst in einigen Jahren zu einem Gebiet werden, "aus dem die Menschen fliehen".

Weil in der ersten Flüchtlingswelle "unkritisch alle aufgenommen wurden, auch Wirtschaftsmigranten", sei heute in vielen Ländern Europas nicht einmal für jene Flüchtlinge Platz, "die wirklich vor dem Tod flüchten. Und deshalb sterben jetzt Menschen", kritisierte der konservative Politiker. Zum Vorschlag von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Europa soll nach dem australischen Modell Migranten auf hoher See abweisen oder auf Inseln internieren, sagte er, dies sei "für Wirtschaftsmigration sinnvoll".

Strikter Grenzschutz und wirksamere Entwicklungspolitik

Jansa kritisierte, dass die EU-Kommission derzeit keine "operativen Fähigkeiten" habe, das Migrationsproblem anzugehen. "Europa muss sie aber entwickeln, sonst wird es mit ihm vorbei sein." Konkret sprach sich Jansa für einen strikten Grenzschutz und eine wirksamere Entwicklungspolitik aus. Derzeit sei das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika für die Afrikaner "ein Magnet, den man nicht abstellen kann". Anstelle der multilateralen Entwicklungshilfe solle jeder EU-Staat zum "Sponsor" eines afrikanischen Landes werden und diesem mit eigenen Experten aus der Armut helfen.

Zerfall der EU befürchtet

Dramatisch wären laut Jansa die Folgen eines Scheiterns in der Flüchtlingskrise. Ohne Lösung werde die EU "zerfallen, weil jeder Staat auf eigene Faust vorgehen wird, was teilweise auch schon begonnen hat". Die Migrationskrise werde auch das britische EU-Referendum am 23. Juni "entscheidend beeinflussen". "Wenn Großbritannien die Europäische Union verlässt, werden wir uns am nächsten Tag in einer anderen Union befinden, weil sich der Trend umkehren wird."

Nach einem Brexit werde es innerhalb von zwei Jahren noch mindestens ein Referendum in Europa geben, "und die letzte Konsequenz könnte der Zerfall der EU auf einige größte Staaten sein, um die dann Satelliten von abhängigen Vasallenstaaten kreisen werden". Solche Zeiten habe Europa "schon einmal erlebt", sagte Jansa in Anspielung auf die Zwischenkriegszeit. "Die Europäische Union ist gerade deswegen entstanden, damit sich so etwas nicht wiederholt." Auf die Frage, ob dann auch kriegerische Auseinandersetzungen möglich seien, sagte der slowenische Ex-Premier: "Das ist üblicherweise die Folge."

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Das Interview im Wortlaut:

APA: Welche Position nehmen Sie in der Migrationskrise ein? Stehen Sie der deutschen Kanzlerin Angela Merkel oder dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz näher?

Jansa: Meine Haltung ist die des Realismus. Solidarität ist erforderlich. Ohne Solidarität hat die Menschheit keine Perspektive. Aber man muss Prioritäten setzen. Die oberste Priorität für einen Staat ist die Sicherheit ihrer Bürger. Der Staat muss den Bürgern ein sicheres und normales Leben garantieren. Erst auf dieser Grundlage können wir anderen helfen. Wenn die Prioritäten umgekehrt werden, entsteht Chaos und das haben wir in Europa schon gespürt. Wenn Sicherheit kein Kriterium mehr ist, könnten wir Europa in ein paar Jahren in ein Gebiet verwandeln, aus dem die Menschen fliehen.

APA: Sie sind also nicht strikt dagegen, dass Slowenien Flüchtlinge im Rahmen einer EU-Quote aufnimmt?

Jansa: Ich habe den ersten Vorschlag der Europäischen Kommission (für Flüchtlingsquoten im vergangenen Herbst, Anm.) unterstützt, aber unter der Bedingung, dass man zuerst sagt, wie viele Migranten Europa jährlich auf seinem Gebiet aufnehmen kann. Wenn es das nicht gibt, wird es jeden Monat einen neuen Verteilungsschlüssel geben. Das funktioniert nicht. (...) Dass in der ersten Welle unkritisch alle aufgenommen wurden, auch Wirtschaftsmigranten, hat zu Reaktionen und Problemen geführt, sodass auf einmal in der Mehrzahl der europäischen Staaten für niemanden mehr Platz war. Früher hatte man Platz für Flüchtlinge und Migranten, jetzt nicht einmal mehr für Flüchtlinge, also für diejenigen, die wirklich vor dem Tod flüchten. Und deshalb sterben jetzt Menschen.

APA: Was halten Sie vom österreichischen Vorschlag, dass sich Europa wie Australien verhalten und Flüchtlinge gleich am offenen Meer abfangen und zurückschicken soll?

Jansa: Mir scheint das für Wirtschaftsmigration sinnvoll. Was die Flüchtlinge betrifft, ist Solidarität notwendig. Einen Teil dieser Solidarität kann Europa auf seinem eigenen Territorium bieten, einen Teil woanders. In Italien werden die meisten Asylbewerber in Hotels untergebracht, was für die Hoteliers ein großes Geschäft ist. Mit dem Geld, das die italienischen Steuerzahler für einen Asylbewerber ausgeben, könnte man in Jordanien eine ganze Familie versorgen.

APA: Sollte man auch Soldaten an die EU-Außengrenzen schicken?

Jansa: Ich unterstütze die Verwendung aller Ressourcen, die den Staaten der Europäischen Union zur Verfügung stehen, um die Sicherheit der Außengrenze sicherzustellen. Warum ist das Römische Reich zerfallen? Weil es seine Grenzen nicht mehr schützen konnte.

APA: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die europäischen Politiker selbst nicht wissen, wie man das Flüchtlingsproblem lösen kann. Zu unterschiedlich sind die Positionen der einzelnen Länder, abhängig von der jeweiligen Betroffenheit.

Jansa: Die große Mehrheit der Staaten ist sich der Situation bewusst. Der Europäischen Kommission fehlen die operativen Fähigkeiten, dieses Problem anzugehen, Europa muss sie aber entwickeln, sonst wird es mit ihm vorbei sein. Das Migrations- und Flüchtlingsproblem ist nämlich nicht nur wegen der Kriege in Syrien und Libyen entstanden, sondern wegen der demografischen Entwicklung. Für Afrikaner ist Europa ein gelobtes Land, weil die Sozialhilfe dort höher ist als das Jahresgehalt eines Mittelständlers im Großteil der afrikanischen Staaten. Das ist ein Magnet, den man nicht abstellen kann.

APA: Wie würden Sie diese Anziehungswirkung verringern?

Jansa: Mit einer effektiven Entwicklungshilfe für Afrika. Die Welt wendet viel Geld dafür auf, doch werden vielleicht zehn Prozent davon vernünftig verwendet. Mein Vorschlag ist, dass man diese Hilfe konkretisiert. Statt in irgendwelche Fonds einzuzahlen, könnte etwa Österreich zum Sponsor eines afrikanischen Staates werden. Auch Slowenien könnte ein Land ähnlicher Größe unterstützen. Ich bin überzeugt, dass das tausende Slowenen motivieren würde, zu helfen. Die Staaten würden dann wohl auch noch miteinander in Wettbewerb treten, wer erfolgreicher ist.

APA: Wird die EU zerfallen, wenn sie die aktuelle Krise nicht lösen kann?

Jansa: Sie wird zerfallen, weil jeder Staat auf eigene Faust vorgehen wird, was teilweise auch schon begonnen hat. Das ist der Anfang vom Ende. Diese Migrationskrise wird auch das britische Referendum entscheidend beeinflussen. Diese Frage kann zehn Prozent der Wähler von einem Lager ins andere ziehen. Wenn Großbritannien die Europäische Union verlässt, werden wir uns am nächsten Tag in einer anderen Union wiederfinden, der Trend wird sich umkehren.

APA: Werden dann überall Austrittsreferenden stattfinden?

Jansa: Ich glaube, dass es innerhalb von zwei Jahren noch zumindest ein Referendum geben wird, und die letzte Konsequenz könnte der Zerfall der EU auf einige größte Staaten sein, um die dann Satelliten von abhängigen Vasallenstaaten kreisen werden. Europa hat solche Zeiten schon einmal erlebt. Die Europäische Union ist gerade deswegen entstanden, damit sich so etwas nicht wiederholt.

APA: Könnte es auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen?

Jansa: Das ist üblicherweise die Folge.

APA: Mit welchen Staaten könnte sich Slowenien dann zusammentun?

Jansa: Wenn die EU zerfällt, werden sich mehrere Staatengruppen in Europa bilden, mit unterschiedlichem Status und formell unabhängig. Kleine Staaten, die ökonomisch an größere Staaten gebunden sind, werden in der jeweiligen Gruppe landen.

APA: Slowenien wird also eher im "deutschen Block" landen.

Jansa: So wie Österreich.

APA: Sollten Österreich, Slowenien und Kroatien eine engere Zusammenarbeit eingehen nach dem Vorbild der Visegrad-Staaten (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn)?

Jansa: Ich glaube, dass ganz Mitteleuropa enger zusammenarbeiten sollte, so wie etwa die nordischen Staaten, die Skandinavier und Balten. Das wäre auch sehr produktiv innerhalb der EU. Es ist viel leichter, drei oder vier Staatengruppen zu koordinieren als 28 Staaten. Die regionale Zusammenarbeit ist möglich und erwünscht, weil sie ermöglicht, dass die EU überhaupt funktioniert. Mitteleuropa ist ein Raum, der organisch und historisch zusammengehört.

APA: Wie bewerten Sie die Lage der Demokratie und des Rechtsstaates in Staaten wie Ungarn und Polen?

Jansa: Slowenien hat wesentlich größere Schwierigkeiten mit dem Rechtsstaat als Ungarn oder Polen. In keinem dieser Länder wird Repression eingesetzt, um etwa den Oppositionsführer drei Wochen vor der Wahl ins Gefängnis zu stecken (Jansa musste vor der Parlamentswahl 2014 eine rechtskräftige Haftstrafe in der Patria-Korruptionsaffäre antreten, Anm.). Das kann nur in Slowenien passieren. Wenn so etwas in Ungarn oder Polen passierte, würden man in Europa bis an die Decke springen.

APA: Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?

Jansa: Offenbar gibt es da doppelte Maßstäbe, weil Slowenien eine linke Regierung hat.

APA: Ist Ihnen ein Stein vom Herzen gefallen, als Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl gewonnen hat?

Jansa: Ich unterstütze jeden, der von den österreichischen Wählern ausgesucht wird, weil das ihre souveräne Entscheidung ist, natürlich unter der Bedingung, dass alle ihre Kampagne anständig führen können und keiner eingesperrt wird. Wenn das Ergebnis umgekehrt gewesen wäre, hätte sich Österreich in einer ähnlichen Situation wie unter Schwarz-Blau wiedergefunden, als es völlig aus dem Rahmen gefallene Vorschläge gab wie jenen, die Österreicher aus der EU auszuschließen. Es wird bei den Parlamentswahlen in Österreich höchstwahrscheinlich zu Veränderungen kommen, und da kann ein Präsident mit einer anderen Parteifarbe für Gleichgewicht sorgen.

APA: Wie sieht es mit Ihrer politischen Zukunft aus? Werden Sie bei den nächsten Parlamentswahlen wieder antreten?

Jansa: Unser historisches Ziel ist die Normalisierung Sloweniens. Wir führen in den Umfragen deutlich. Unser einziges Problem ist, dass wir nicht wissen, wer unser Gegner sein wird. Es wird nämlich immer (kurz vor den Wahlen, Anm.) eine neue Partei aus den gescheiterten Parteien gemacht. (2011 unterlag Jansas SDS der Linkspartei "Positives Slowenien" des Laibacher Bürgermeisters Zoran Jankovic, 2014 der neugegründeten Namenspartei des angesehenen Verfassungsjuristen Miro Cerar, Anm.)

(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA)

Zur Person: Janez Jansa (57) steht seit 23 Jahren an der Spitze der konservativen Demokratischen Partei (SDS), war von 2004 bis 2008 und in den Jahren 2012 bis 2013 slowenischer Regierungschef. Sein politisches Kapital erwarb er sich als Organisator des bewaffneten Widerstandes gegen die jugoslawische Armee im Unabhängigkeitskrieg, der sich Ende Juni zum 25. Mal jährt. Der langjährige Oppositionsführer sieht Slowenien immer noch von ex-kommunistischen Netzwerken dominiert. Seine Verurteilung in der Patria-Korruptionsaffäre, die ihn 2014 für einige Wochen ins Gefängnis brachte, sieht er als politisch motiviert an.