Laut der Denkfabrik Institute for Economics and Peace (IEP) sind im Jahr 2022 238.000 Menschen weltweit in Konflikten und Kriegen gestorben – so viele wie seit 30 Jahren nicht mehr. Derzeit kommen im Krieg zwischen der Hamas und Israel viele unschuldige Menschen hinzu. Bilder von zerstörten Häusern, geköpften Babys und massakrierten Zivilisten schocken und lassen die Weltgemeinschaft zugleich oft sprachlos zurück. Doch was sagt das humanitäre Völkerrecht? Wer darf sich verteidigen und wie? Was ist gerechtfertigt, was ein Graubereich?

Israels Angriffe sind erlaubt

Ganz grundsätzlich verbietet das Völkerrecht bereits die Gewaltanwendung zwischen zwei Staaten. "Aber wenn es doch dazu kommt, regelt das Recht der bewaffneten Konflikte", erklärt Völkerrechtlerin Anna Petrig, Professorin an der Universität Basel. Länder dürfen sich gegen die Angriffe eines Landes wehren. Jedoch nur, indem sie für den Krieg relevante Einrichtungen attackieren. Angriffe auf zivile Ziele sind nicht erlaubt. Wie schwierig diese Bestimmung in der Realität sind, zeigt der Israel-Palästina-Konflikt. Die Hamas baut bewusst militärisch-wichtige Organisationspunkte in der Nähe ziviler Einrichtungen.

So problematisch und nüchtern es klingt: Das Völkerrecht, wie die Juristin Petrig erklärt, verweist in diesem Fall aber auf den "Kollateralschaden". "Es ist also nicht so, dass das Völkerrecht keine zivilen Schäden erlaubt". Zivile Opfer, die eine militärische Operation fordert, seien rechtens – solange die Verhältnismäßigkeit stimme. Auch sei es zu aller erst die Pflicht der Hamas-Terroristen, die Bevölkerung nicht als Schutzschild einzusetzen. Diese Taktik sei laut Petrig ein "Kriegsverbrechen".

Die Völkerrechtlerin Anna Petrig
Die Völkerrechtlerin Anna Petrig © Uni Basel

Völkerrechtlich schwieriger ist hingegen die Bewertung von Israels Taktik, Strom und Wasser für den Gazastreifen zu sperren. Dabei handele es sich in erster Linie – erklärt Petrig – um eine uralte Kriegsstrategie – nämlich die der Belagerung. Die sei an sich nicht verboten. Das Problem ist jedoch, dass dabei ebenfalls Zivilisten – in diesem Fall die palästinensische Bevölkerung – in Mitleidenschaft gezogen wird. "Eine Belagerung ist nur rechtmäßig, wenn entweder lebenswichtige Güter für die Zivilbevölkerung durchgelassen werden oder die Zivilbevölkerung das belagerte Gebiet verlassen kann", erklärt Petrig. Eine militärische Notwendigkeit müsse erkennbar sein. "Das ist beim Stopp von Energiezufuhr eher der Fall als bei Wasser-Sperren".

Eine weitere heikle Frage, die seit dem blutigen Angriff der Hamas diskutiert wird, ist, ob die von Israel vorangetriebene Evakuierung des Gazastreifens legal sei oder eine ethnische Säuberung darstellt. Für Völkerrechtlerin Petrig ist die Sache eindeutig: "Eine ethnische Säuberung ist kein juristisches, sondern ein politisches Konzept. Einen Völkermord im Gazastreifen kann ich nicht erkennen". Die Angriffe würden Terroristen gelten, nicht jedoch auf die Zerstörung der palästinensischen Bevölkerungsgruppe abzielen.

Die Gegenwart als Abziehbild der Vergangenheit

Doch wie steht es um das Völkerrecht als solches? Der Völkerrechtler Ralph Janik von der Universität Wien gesteht ein, dass die Gegenwart derzeit mehr der Vergangenheit ähnelt, als ihm lieb ist: "Aktuell sind wir auf Kurs Richtung 19. Jahrhundert, wo der Krieg einfach dazugehört hat". Völkerrechts-Lehrbücher aus dieser Zeit seien mittlerweile gefühlt aktueller als jene des 21. Jahrhunderts, erklärt Janik überspitzt.

Der Völkerrechtler Ralph Janik
Der Völkerrechtler Ralph Janik © Uni Wien

Letztlich käme es auf die Institutionen an, die dafür sorgen, wie stark das Völkerrecht auch in der Gegenwart ist. Die UNO, der Internationale Strafgerichtshof, aber auch Organisationen wie das Rote Kreuz sind entscheidende Einrichtungen, die in Zeiten der multiplen Krisen und um sich greifenden Gewalt die Rechtslage sichern können.