Es gibt ein Davor und ein Danach. Aber sicher kein Zurück. Alles in Kiew erinnert daran. Die Mauer vor dem Michaelskloster trägt die Namen der gefallenen ukrainischen Soldaten – als warnende Gravur der Eskalation. Die Wand ist zu kurz. Die Fotos der Verstorbenen kleben bereits übereinander. Selfies von Teenagern hängen neben stolzen Porträts von ordensgeschmückten Altkämpfern. Gleich dahinter rauscht der Dnjepr durch die Stadt. In der Sowjetunion wurde er im Volksmund "Fluss der Freundschaft" genannt – schließlich bahnt er sich seinen Weg von Russland über Belarus bis in die Ukraine. Die Verbindung ist gekappt. Und auch das "Denkmal der Völkerfreundschaft" wirkt fahl – wie ein Regenbogen ohne Farben.

Farbe bekennen, ein Zeichen der Solidarität in die Welt schicken, das ist hingegen die Intention des Außenministertreffens in Kiew, das EU-Außenbeauftragter Josep Borrell einberufen hat. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist noch nie eine so große Gruppe ranghoher ausländischer Politikerinnen und Politiker nach Kiew gekommen wie an diesem Montag. Das Signal des Prinzips wegen – es kommt nicht von ungefähr vor dem zweiten Kriegswinter. Gespräche über die Integration der Ukraine in der EU sind mittlerweile über den Konjunktiv hinausgewachsen.

"Ein Besuch, der ermutigen soll"

Entsprechend bemüht ist man in der ukrainischen Hauptstadt daher auch um konkrete Botschaften. So betont Borrell nach dem in einem tief gelegenen Hotelkeller abgehaltenen Ministerrat, dass die EU in den nächsten Monaten die Ausbildung von 40.000 Soldaten abgeschlossen haben wird. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock spricht sich nicht nur für einen Winterschutzschirm für die Ukraine aus, sondern betont auch die ihrer Ansicht nach nach wie vor intakte EU-Perspektive. "Die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union", erklärt Baerbock. "Und die wird sich bald von Lissabon bis Luhansk erstrecken."
Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg nennt das Treffen der Außenminister in Kiew später "einen Besuch, der ermutigen soll". In Stein gemeißelt ist die europäische Unterstützung für die Ukraine allerdings nicht. Denn zusätzlich zu Ungarn, dessen Premierminister Viktor Orbán auch nach Kriegsbeginn weiter gute Beziehungen zum Kreml pflegte, könnten sich schon bald weitere Löcher in der eineinhalb Jahre lang erstaunlich geschlossenen europäischen Phalanx auftun.

So ist bei der Parlamentswahl in der Slowakei mit Robert Fico nun ein Mann auf dem ersten Platz gelandet, der in den Wochen davor auch mit dem Versprechen, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern, auf Stimmenfang gegangen ist. Sollte es dem viermaligen Premier in den nächsten Wochen gelingen, eine Koalition zu schmieden, dürfte die Regierung in Kiew damit einen der treusten Verbündeten verlieren. Bereits unmittelbar nach dem russischen Überfall hatte die Slowakei ihre S-300-Flugabwehrsysteme an das Nachbarland übergeben, ein Jahr später dann alle ihre MiG-29-Kampfjets.

Doch nicht nur Länder wie die Slowakei, wo auch die Mehrheit der Bevölkerung Waffenlieferungen skeptisch sieht, bereiten der Regierung in Kiew Kopfzerbrechen. Erst vor wenigen Tagen musste die Ukraine erfahren, wie schnell sich das Thema Waffenhilfe in Wahlkampfzeiten hochschaukeln kann und dann plötzlich als Grundsatzfrage verhandelt wird. So hatte die rechtskonservative polnische Regierungspartei PiS die ukrainischen Getreideimporte und ein angestrebtes Verfahren vor einem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation zum Anlass genommen, um den völligen Stopp von Waffenlieferungen zumindest in den Raum zu stellen. Trotz des anschließenden Versuchs, die Wogen wieder zu glätten, blieb auf beiden Seiten viel zerbrochenes Porzellan übrig.

Europäer als größte Unterstützer

Die komplizierte Stimmungslage innerhalb der EU ist auch in Kiew spürbar. Der ungarische Außenminister ließ sich für das Treffen entschuldigen, sein polnischer Kollege reiste ebenfalls nicht an. Was manchen EU-Staaten als atmosphärische Störung gilt, ist für die Regierung in Kiew allerdings gleich in doppelter Hinsicht problematisch. Denn von den europäischen Staaten kommt laut den Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft nicht nur die größte finanzielle Hilfe für die Ukraine, mittlerweile hat Europa die USA auch bei der unmittelbaren Unterstützung mit Waffensystemen und militärischer Ausrüstung überholt.

Schon bald könnten die Europäer, die bei ihrem Besuch in Kiew auch auf stärkere Korruptionsbekämpfung und die Abhaltung von Wahlen drängten, aber gezwungen sein, noch ein spürbar größeres Stück der Last zu schultern. Denn die Unterstützung der Ukraine durch die USA wird möglicherweise schon lange vor einem nicht auszuschließenden Wahlsieg von Donald Trump im November 2024 zurückgefahren werden. Am Wochenende konnten Republikaner und Demokraten einen drohenden Shutdown nur dadurch verhindern, indem sie den Forderungen ultrarechter Hardliner nachgaben und die Ukraine-Hilfe aus einer 45-tägigen Übergangsfinanzierung ausklammerten.