Die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ist inzwischen zur grausamen Routine geworden, dabei liegt der Tag des Angriffs erst neun Monate zurück. Frau Andruchowytsch, bevor wir über Ursachen und Wirkungen sprechen: Welche Szenen spielten sich für Sie am Tag des russischen Einmarsches in der Ukraine für Sie ab?
SOFIJA ANDRUCHOWYTSCH. Ich lebe seit 17 Jahren in Kiew. Auch dieser Tag, der 24. Februar, hätte ein ganz normaler Tag werden sollen – auch wenn die Stimmung etwas eigenartig war. Es gab Informationen, wonach Soldaten an der Grenze in Stellung gebracht würden. Aber trotzdem hielt es niemand für möglich, dass wirklich ein Krieg möglich wäre. Ich schreckte um 5 Uhr in der Früh auf. Ich spürte ein Beben, draußen war es laut. Viel lauter als sonst. Ich griff zu meinem Handy, checkte die News. Dann war alles klar. Das Absurde war, dass mein Kopf und meine Psyche versuchten, mich zu schützen. Denn am Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, fragte ich meinen Gatten, ob unsere Tochter an diesem Tag zur Schule gehen würde. Eine völlig absonderliche Frage. Aber mein Hirn schaltete auf stur, auf Normalbetrieb. Da war zunächst dieser Schutzmechanismus, einfach so zu tun, als wäre nichts passiert. Wir packten unsere Koffer, wollten natürlich flüchten. In den Westen des Landes, zumindest. Doch unser Auto sprang nicht an. Also harrten wir in Bombenschutzbunkern aus. Wahrscheinlich saßen und lagen Hunderte von Menschen dort. Und es war wie ein schrecklicher Traum oder eine alte Erzählung, die man nie erwartet hätte, selbst einmal zu erleben.