Oder-Neiße-Friedensgrenze hieß die natürliche Trennlinie zwischen Deutschland und Polen einmal. Genauer gesagt zu Zeiten vor dem Fall der Berliner Mauer, als das Gebiet zwischen Elbe und Oder noch DDR hieß und das Land östlich davon Volksrepublik. Das ist Geschichte. Und auch mit dem Frieden ist es nicht so weit hin zwischen Deutschland und Polen in diesen Tagen. "Das lief nicht, wie es sein müsste", so Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) zuletzt bei einem Besuch in Lebus an der Oder.

In dem deutsch-polnischen Grenzfluss treiben seit Tagen tote Fische. Erste Fälle traten bereits am 26. Juli am Oberlauf in Polen auf. Doch die dortigen Behörden schwiegen zunächst. Stattdessen beobachteten sie auf der deutschen Seite des Grenzflusses Merkwürdiges. Mitten in eine Hitze- und Dürreperiode hinein, stiegen plötzlich die Pegel der Oder kräftig an. Um dreißig Zentimeter. Die Vermutungen in Deutschland: Auf polnischer Seite wurden Staubecken geöffnet, um belastetes Flusswasser zu verdünnen. Die weisen die Vorwürfe brüsk zurück. Der Anstieg sei auf Regen in Tschechien zurückzuführen. Die Oder verbindet die Menschen in Tschechien, Polen und Deutschland. Aber die Behörden sprechen nicht miteinander. 

Ein toter Fluss

Das hat Folgen: Auf rund fünfhundert der achthundert Flusskilometer ist die Oder ein toter Fluss. Umweltverbände sprechen von bis zu 100 Tonnen totem Fisch. "Die Oder ist ein Brandenburger Lebensquell. Umso schlimmer ist die Umweltkatastrophe, die wir derzeit erleben müssen", klagt Ministerpräsident Woidke. Die Katastrophe begann langsam, zunächst auf polnischer Seite. Dann schwappte die tödliche Welle nach Deutschland, um im Norden im Stettiner Haff auf polnischer Seite in die Ostsee zu münden. Eine europäische Umweltkatastrophe unter doppelter Aufsicht.

"Die Reaktion hätte schneller kommen müssen", poltert der polnische Regierungschef
"Die Reaktion hätte schneller kommen müssen", poltert der polnische Regierungschef © APA/AFP/LUDOVIC MARIN (LUDOVIC MARIN)

"Die bisherige Kommunikation muss aufgeklärt werden", fordert Woidke. Aus Polen erreichten die deutsche Seite nämlich keine Warnhinweise. Ein Binnenschiffer informierte deutsche Stellen über tote Fische im Fluss. Aber auch in Polen selbst wurde nachlässig gehandelt. Zwei hohe polnische Beamte wurden bereits entlassen. Ihr Pech: Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki stammt aus Breslau am Ufer der Oder. "Die Reaktion hätte schneller kommen müssen", poltert der polnische Regierungschef.

Mix von Ursachen 

Die Ursachen für das Fischsterben sind noch unklar. Die polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" spekuliert über illegal eingeleitete Abwässer, etwa aus Papiermühlen oder Chemiefabriken. Auch ein erhöhter Salzgehalt im Wasser wurde festgestellt. Umweltschützer in Deutschland vermuten einen Zusammenhang mit dem Ausbau der Oder in Polen. "Es könnte sein, dass durch die dortigen Bohrungen Sedimente aufgewirbelt wurden", so der Fischökologe Christian Wolter. Auf polnischer Seite wurden in der Oder erhöhte Werte des Lösemittels Mesitylen gefunden. Aber nur vereinzelt. Die Analysen laufen – in Deutschland wie in Polen. Erste Vermutung: Ein Mix aus Hitze, niedrigem Pegelstand und erhöhten Schadstoffen löste die Umweltkatastrophe aus.

Deutsch-polnisches Verhältnis belastet

Die lastet nicht allein auf dem Ökosystem der Oder, sondern auch auf dem deutsch-polnischen Verhältnis. Die Beziehungen sind ohnehin angespannt – Stichwort Ukraine. Nun beklagt die deutsche Seite verspätete Informationen vom Nachbarn.  Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) mahnte nach einem Treffen mit ihrer polnischen Amtskollegin Anna Moskwa: Die Tatsache, dass deutsche Stellen verspätet über den Unfall informiert worden seien, erschwere die Ursachensuche. Die deutsche Umweltorganisation BUND kritisiert schärfer: "Das Kernversagen liegt in Polen." Solche moralische Vorhaltungen kommen nicht eben gut an östlich der Oder. 

Ein Mix aus Hitze, niedrigem Pegelstand und erhöhten Schadstoffen könnte die Umweltkatastrophe ausgelöst haben
Ein Mix aus Hitze, niedrigem Pegelstand und erhöhten Schadstoffen könnte die Umweltkatastrophe ausgelöst haben © APA/dpa/Patrick Pleul (Patrick Pleul)

Rund 670 Kilometer weiter westlich, im beschaulichen Beamtenstädtchen Koblenz, wissen sie, vor welchen Aufgaben die Anrainer an der Oder stehen. Dort hat unweit der Hohenzollernstraße die Internationale Kommission zum Schutz des Rheines (IKSR) gleich am Ufer des Flusses ihren Sitz. Auch dort erlebten sie den Super-GAU. Am 1. November 1986 brannte es im Baseler Werk des Chemiekonzerns Sandoz. Mehr als zwanzig Tonnen Gift landen mit dem Löschwasser im Rhein, auf einer Länge von vierhundert Kilometern stirbt im Fluss fast das komplette Leben, die Trinkwasserversorgung aus dem Rhein wird für zwei Wochen vollständig eingestellt. Auch damals ging mit der Kommunikation zwischen den Anrainern manches schief.

Von der Rhein-Kommission lernen 

Am Rhein haben sie aus den Fehlern gelernt. Ein Jahr nach dem Chemie-Unfall wird von den Anrainerstaaten – darunter Österreich – das Aktionsprogramm Rhein aufgelegt. Es zielt nicht allein darauf, die biologische Vielfalt in und um den Fluss zu stärken, sondern auch die Dienstwege kurzzuhalten. So wurde die IKSR gestärkt. Die Wasserqualität des Rheins wird über 13 Messstationen stetig erfasst, sieben Warnzentralen entlang des Flusses koordinieren im Schadensfall das Vorgehen. Auch Nebenflüsse werden in die Kontrollen eingezogen. Für die Unternehmen entlang des Flusses

An der Oder können sie nun vom Rhein lernen. Nicht nur, was die internationale Zusammenarbeit angeht. Auch, wie lange es dauert, bis die Natur sich wieder berappelte. Fast eineinhalb Jahrzehnte brauchte der Rhein, um sich vom Sandoz-Unfall zu erholen. Auch für Umweltkatastrophen gilt: Europa wächst an seinen Krisen.