Das Großmütterchen hätte es beinahe geschafft in den noch friedlichen Teil Europas. Doch nur wenige Hundert Meter vom Grenzübergang Krakowez entfernt sackt die betagte Frau zusammen. Ihr Herz gibt auf. Jemand muss Pappe unter ihr ausgebreitet haben, bevor sie zusammenbrach. Vielleicht war es ihr Sohn mit der orangen Mütze. Er bearbeitet mit beiden Händen den Brustkorb der Seniorin. Anton Yaremchuk steuert gerade sein Auto mit Berliner Kennzeichen aus dem Terminal und auf die Raststätte zu. Er sieht durch eine Lücke zwischen den Wartenden, wie der Sohn sich über seine Mutter beugt. Der 32-jährige Berliner tritt auf die Bremse, steigt aus dem Audi und hastet los. Yaremchuk und der Sohn wechseln sich ab mit der Herzmassage. Vergebens. Die Frau stirbt noch in der Ukraine und so kurz vor Europas Außengrenze.

Einen halben Tag bevor Anton Yaremchuk, kaum angekommen in seiner blutenden Heimat, vergeblich ein Leben retten wollte, hatte sich der Filmemacher aus Berlin-Friedenau in sein Auto gesetzt. Er fährt über Polen in Richtung Ukraine. Seine Kameraausrüstung ist dabei, er will dokumentieren, was in seiner Heimat los ist. Im Auto herrscht Schweigen nach der entsetzlichen Szene mit der sterbenden Frau an der Grenze. Er fährt stumm an den weiß gefrorenen Wiesen vorbei. Eine Weile geht es zügig voran auf der Autobahn in Richtung der 70 Kilometer entfernten westukrainischen Großstadt Lwiw (Lemberg) mit ihren circa 721.000 Einwohnern.

Yaremchuk öffnet das Autofenster, als er zwei Frauen sieht, die zu Fuß in Richtung Lwiw unterwegs sind. Er fragt, ob er sie mitnehmen könne. Die beiden Ukrainerinnen steigen ein, bedanken sich und greifen sofort zu ihren Smartphones. Die eine erzählt zwischen den Telefonaten, dass die beiden bei einer privaten Arbeitsvermittlung in Warschau tätig sind.

"Ein Taxi Richtung Lwiw genommen"

Viele Ukrainer arbeiten im unter Fachkräftemangel leidenden Polen. Sie hätten sich in Warschau in den Bus Richtung Grenze gesetzt, erzählt die eine. "Unsere Töchter haben sich in Kiew ein Taxi Richtung Lwiw genommen", meint sie. Während die einen im Bus eine Strecke von 340 Kilometern Luftlinie bequem auf der polnischen Autobahn zurücklegten, waren die Töchter in ihrem Taxi auf einer Strecke von 540 Kilometern in den Staus unterwegs, erzählen sie. Sie hielten am Handy Kontakt, um zu entscheiden, wann die Mütter die Grenze passieren sollten. Irgendwo da vorne seien ihre Töchter, sagt die Ukrainerin und zeigt auf die endlose Blechlawine in Richtung Lwiw. Noch mehrmals klingelt das Handy einer der beiden Frauen. Dann ein Wunder: Die Frau zeigt auf einen grünen Laster, der sich einen Meter vor Yaremchuks Auto in Richtung Lwiw bewegt. "Sie sind genau dahinter", sagt sie. Die beiden Damen packen ihre Handtaschen und wünschen zum Abschied noch ein in diesen Tagen in der Ukraine allgegenwärtiges: "Slava Ukraini" – "Hoch lebe die Ukraine".

"Keine Versorgung mit Wasser oder Essen"

Das Stadtzentrum des alten Lemberg wirkt wie aus der Zeit gefallen. Modeboutiquen reihen sich im Schatten der Kirchtürme an Cafés. Patisserien werben mit der berühmten Lwiwer Schokolade. Nur hat fast alles geschlossen. Die Menschen hasten stumm wie Geister durch die prächtigen Straßen.

Der Stadtrat und baptistische Pastor Dmytri Kolesnyk schaut zwei Stunden vor der von 22 Uhr an geltenden Ausgangssperre in Lwiw bei uns vorbei. Ihm scheint es ein Anliegen zu sein, die Welt über die Zustände rund um Lwiw zu informieren. Kolesnyk ist betroffen, als er von dem Tod des Großmütterchens an der Grenze hört. Es erstaunt ihn aber nicht. "Die Menschen brauchen inzwischen von Kiew 17 Stunden, um hierher zu fahren. Manche sind tagelang unterwegs und es gibt keine Versorgung mit Wasser oder Essen", sagt er. Er selbst kenne Menschen, die an der Grenze vor Erschöpfung wieder umgekehrt sind. "Sie haben ihr Auto einfach stehen lassen", sagt Kolesnyk.

Training für die Selbstverteidigung 

Die Dinge sind kompliziert. Noch gelten die üblichen Formalitäten bei der Ein- und Ausreise. Der Gesetzgeber sei dabei, alles zu überarbeiten, was die Ausreise bürokratisch verlangsamt, etwa die Kontrolle von Autopapieren. "Aber der Krieg hat erst vor ein paar Tagen angefangen. Das war ein Überfall", sagt er. Entscheidungen können im Kriegsrecht nun auch die lokalen Kommandeure der Territorialen Selbstverteidigung für die Oblaste, die ukrainischen Verwaltungsdistrikte, treffen. Kolesnyk versucht, einen Kommandeur zu erreichen. "Bisher ist mir das nicht gelungen. Er ist mit dem Training von Bürgern für die Selbstverteidigung beschäftigt", sagt er. Immerhin ist er zuversichtlich, dass kein Geflüchteter unter freiem Himmel nächtigen muss. "Wir sind außerdem hier noch nicht beschossen worden", sagt er.

Dann öffnet er sein Smartphone und zeigt eine Google-Maps-Karte mit einem Meer von blauen Tropfen. Sie zeigen die Keller und Luftschutzbunker in der Stadt an. Die Kapazitäten scheinen groß, aber genügen sie auch, um bei einem weiteren Ansturm von Geflüchteten allen bei einem Luftangriff Schutz zu bieten? Kolesnyk antwortet ehrlich. Das wisse er einfach nicht.