Vier Handlungsoptionen Russlands haben Militärexperten des österreichischen Bundesheeres bereits im Vorfeld der Eskalation im Osten der Ukraine als möglich erachtet, zwei davon sind demnach mittlerweile in die Tat umgesetzt. "Die erste war der Aufbau einer Drohkulisse mit der Absicht, den Westen zum Einlenken zu bewegen. Option zwei sehen wir gerade, das ist die Anerkennung der Separatistengebiete und der Einmarsch in diese als sogenannte Friedensoperation", analysiert Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschung- und Entwicklungsabteilung in der Theresianischen Militärakademie Wiener Neustadt.

Was wären demnach die nächstmöglichen Szenarien? "Das ist der Einmarsch über die Grenzen dieser beiden Oblasten (Verwaltungsgebiete, Anm.) hinaus und theoretisch ein Vormarsch bis zum Dnjepr, was die Ukraine als Ganzes betreffen würde", erklärt Reisner im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Insofern sei das Vorgehen Russlands bislang für Experten keine Überraschung gewesen, wohl aber die Rede Wladimir Putins am Montagabend. Diese sei von einer ungewöhnlichen Klarheit und Konsequenz gekennzeichnet und wohl in erster Linie an das eigene Volk gerichtet gewesen. Dieser 21. Februar 2022 werde wohl in die Geschichtsbücher eingehen, meint der Offizier. "Eine Nuklearmacht hat entschieden, die militärische Karte zu ziehen und wir im Westen haben möglicherweise noch nicht verstanden, welche Folgen das haben kann."

Oberst Markus Reisner forscht an der Militärakademie Wiener Neustadt
Oberst Markus Reisner forscht an der Militärakademie Wiener Neustadt © BMLV/Kreibich

Kommt es zum erwarteten Übergang in das Szenario drei, einem Vorstoß über die von den Separatisten besetzten Gebiete hinaus, seien wohl massive Kampfhandlungen die Folge. Die ukrainische Armee habe sich in den letzten Jahren stark modernisiert, etwa durch die Beschaffung türkischer Drohnensysteme und den Waffenlieferungen aus dem Westen. Aber sollte Russland seine Kräfte in voller Stärke einsetzen, habe die Ukraine dem wenig entgegenzusetzen. "Die russischen Streitkräfte würden massiv Artillerie- und Raketensysteme einsetzen, die in einer Qualität verfügbar sind, die nicht einmal westliche Armeen haben." Reiser erinnert an ein Beispiel 2014, als eine ukrainische Brigade im offenen Gelände mit Mehrfach-Raketenwerfer beschossen wurde. Die Folge: Mehr als 70 Tote und 150 schwerverletzte Soldaten.

Verheerende Waffenwirkung

Russland könne seine ganze Bandbreite an Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Der Experte zählt auf: "Wir reden von Rohrartillerie, von Raketen unterschiedlicher Reichweite, Luftmittel wie Kampfhubschrauber, Flugzeuge, taktische Raketen – alles mit verheerender Wirkung." Die Ukraine sei bei der Verteidigung seines Territoriums weitgehend auf sich alleine gestellt und könne einen russischen Vorstoß maximal verzögern, aber nicht aufhalten.

Außer mit Waffenlieferungen und einer Unterstützung mit Aufklärungsmitteln könne die Nato bzw. die EU dem angegriffenen Land keine direkte militärische Unterstützung gewähren. "Den Einsatz von Nato-Kräften auf ukrainischem Territorium würde ich eher ausschließen, wenn dann nur in Beraterrollen", sagt Reisner.

Derzeit sei für den Militärexperten noch nicht erkennbar, wo die russische Offensive endet. Das gelte auch für militärische Maßnahmen, die unmittelbar auch die Hauptstadt Kiew betreffen. "Da muss man die Entwicklung der nächsten Tage abwarten." Die von Putin angedeutete Drohung eines Nuklearschlages hält Reisner für wenig wahrscheinlich, könne aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden, wenn Nato-Staaten aktiv in den Konflikt einsteigen.